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Jede Note verstehen

"Ihrer Majestät Schiff ‚Beagle', eine Brigg mit zehn Kanonen unter dem Kommando von Kapitän Fitz Roys, lief am 27. Dezember von Devonport aus, nachdem sie von schweren Südweststürmen zweimal zurückgeworfen worden war". So lässt Charles Darwin 1831 das Tagebuch seiner großen Weltreise beginnen, die ihn als kaum Zwanzigjährigen nach Südamerika, auf die Galapagos-Inseln, nach Tahiti, Neuseeland und Australien führte. In seiner Nüchternheit ist der Satz programmatisch: Hier will einer berichten, nicht erzählen, will Zeugnis ablegen über die Wunder der Welt, ohne die distanzierende Perspektive des Wissenschaftlers aufzugeben. Zum Glück für seine Leser gelingt das Darwin nicht immer.

Es ist jene Reise, die dem jungen Wissenschaftler das Material liefert, aus dem er im Laufe der folgenden zwanzig Jahre die Evolutionstheorie entwickeln wird. Wer allerdings in den Aufzeichnungen dieser fünf Jahre als wissenschaftlicher Begleiter von Kapitän Robert FitzRoy nach frühen Anklängen jener revolutionären Gedanken sucht, wird nur selten fündig. Denn während der Reise ist Darwin noch hauptsächlich Beobachter und Sammler; er schaut und nimmt in sich auf, was er erst in den Jahren nach der Rückkehr nach England – das er danach nie mehr verlassen wird – zum Theoriegebäude vereinigen sollte. Nur die kritische Distanz zu gängigen wissenschaftlichen Erklärungsmustern seiner Zeit, die mitunter aufblitzt, weist bereits in die Richtung, die Darwins eigene wissenschaftliche Arbeit einmal gehen wird.

Doch auch wenn die evolutionstheoretische Spurensuche eher mager ausfällt, als zeitloser Klassiker des Genres ist Darwins Reisebericht allemal ein Leseerlebnis. Denn neben aller wissenschaftlichen Detailfülle, bricht sich auch immer wieder eine Neigung zur Geschichte, zum erzählten Erlebnis Bahn. Beispielhaft etwa im neunten Kapitel, wo sich die nüchterne Beschreibung geologischer Formationen abwechselt mit der Schilderung eines Ausritts auf den Falklands, den Darwin an der Seite zweier Gauchos unternimmt – Wildwest-Atmosphäre auf einer der trostlosesten Inseln, die Darwin besuchte. Gerade solche Passagen, in denen eine seinerzeit noch wenig bekannte Welt geschildert wurde, machten einen Gutteil des zeitgenössischen Erfolgs des Werkes aus.

Ein Erfolg, von dem Darwin wirtschaftlich zunächst nicht profitierte. Obwohl schon Anfang 1838 druckfertig, erschien das Werk erst im Mai 1839, da der Verleger es gemeinsam mit dem Reisebericht von Kapitän FitzRoy auf den Markt bringen wollte. Und FitzRoy ließ sich Zeit. Den Gewinn der schließlich verkauften rund 2000 Exemplare strich der Verleger ein, was Darwin einige Jahre später bewog, in einem anderen Verlag eine überarbeitete Fassung auf den Markt zu bringen. Es war diese Version aus dem Jahre 1845, die seinen Ruf als Naturforscher dauerhaft begründete.

Dem langsamen Chronisten FitzRoy brachte die Zusammenarbeit mit dem jungen Gelehrten übrigens wenig Freude. Nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk "The Origin of Species" distanzierte er sich mit der Bibel in der Hand öffentlich von den "gottlosen" Thesen des Forschers. Doch das Bewusstsein um seine Rolle als Kapitän jener Reise, die Darwin den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung seiner Theorien gegeben hatte, ließ den Seemann in Depressionen versinken. Am 30 April 1865 griff er zum Rasiermesser und setzte seinem Leben selbst ein Ende.

Von all dem findet sich kein Wort in dem vorliegenden Werk – und das ist auch seine Hauptschwäche. Ein ausführlicher Anmerkungsteil hätte die ansonsten vorzügliche Neuausgabe (herausragend die Übersetzungsarbeit von Eike Schönfeld) ganz im Sinne Darwins abgerundet. Der hatte schon an Bord der "Beagle" konstatiert, dass "so wie in der Musik derjenige, der, wenn er (...) jede Note versteht, das Ganze desto voller genießen kann, auch derjenige, der jeden Aspekt einer schönen Ansicht untersucht, die volle und vereinte Wirkung gründlich zu verstehen vermag".

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