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Vom Hedgefonds-Manager zum Lehrer der Menschheit

Die Geschichte klingt wie eine typisch amerikanische Internet-Erfolgsstory. Salman Khan gibt seiner Cousine aus der Ferne Nachhilfe in Mathematik, zunächst ganz konventionell übers Telefon, dann per Videoclip – so erfolgreich, dass er auf die Idee kommt, seine Kurzlektionen auf YouTube der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Die Kunde von den kostenlosen Nachhilfestunden via Internet spricht sich herum, die Klickzahlen wachsen, Khan gewinnt eine immer größere Schar von Begeisterten.

Da wird Bill Gates auf die Initiative aufmerksam. Microsoft spendiert eine ordentliche Anschubfinanzierung, und Khan vollzieht einen radikalen Wechsel von den ganz Bösen (Hedgefonds-Analyst) zu den ganz Guten (Lehrer der Menschheit). Aus seiner Ein-Mann-Initiative wird ein richtiges Unternehmen mit 46 Mitarbeitern (einschließlich Hund Toby, "Director of Wellness"), und khanacademy.org ist mit zwei Millionen Nutzern die weltweit meistgenutzte kostenlose Internet-Lernseite. Begeisterte Mails aus aller Welt bestätigen Khan, dass er mit seinem Angebot in eine überaus schmerzlich empfundene Lücke gestoßen ist.

Beflügelt durch diesen Erfolg denkt er weiter. Hier sei die Chance, den Schulunterricht überhaupt radikal umzukrempeln. Wozu muss man heute noch ganzen Klassen denselben Stoff zur selben Zeit eintrichtern? Und damit zwangsläufig größere Teile der Klasse über- oder unterfordern, da die Lerngeschwindigkeiten weit auseinandergehen? Hole sich doch jeder die Inhalte zu der Zeit aus dem Internet, die am besten zu seinen Vorkenntnissen, seinen persönlichen Vorlieben und seinem Lerntempo passt.

Übungen zum "Vorlesungsstoff" liefert Khan gleich mit, automatisch vom Computerprogramm erzeugt; das funktioniert in der Mathematik tatsächlich bis zu einem gewissen Grad. Mit einer ausreichenden Anzahl fehlerfrei am Stück gelöster Übungsaufgaben erhält man eine Erfolgsbescheinigung – und weg ist die Klassenarbeit mitsamt dem Termindruck und dem Drang zum "Bulimie-Lernen" (große Stoffmengen mit Gewalt in den Kopf pressen und nach der Klausur gleich wieder vergessen). Eine Note entscheidet nicht mehr über die Versetzung und schon gar nicht über das weitere Leben; wenn das Kind den Stoff nicht gleich begreift, dauert es eben ein bisschen länger.

Wo er schon einmal dabei ist, reißt Khan auch die restlichen Grundpfeiler des klassischen Schulsystems ein. Wozu ein Klassenverband? Jeder lernt mit seinem Tempo, und es schadet nicht, wenn sich am Ende Schüler sehr verschiedenen Alters bei demselben Lernstoff wiederfinden. Wozu Sommerferien? Sollen die Kinder doch wie die Erwachsenen Urlaub machen, wann es ihnen – und ihren Eltern – am besten passt.

Dann könnte man ja gleich das Schulgebäude abschaffen und die Lernerei komplett ins eigene Jugendzimmer mit Internetanschluss verlagern? Das schlägt Khan nicht vor – vermutlich ist ihm klar, dass die meisten Leute so viel Selbstdisziplin nicht aufbringen. In seiner Idealvorstellung ist die Schule immer noch ein echtes Gebäude, aber sie besteht nicht mehr aus Klassenzimmern, sondern aus Nischen, in denen man allein oder zu mehreren seinen Lerninteressen nachgehen kann. Lehrer stehen stets bereit, wenn es Fragen gibt, und wie in der klassischen Schule werden die Fortgeschrittenen den Langsamen freundschaftlich unter die Arme greifen.

Das Konzept ist zunächst ungeheuer attraktiv – und so radikal, dass man es zuallererst gegen die üblichen Bedenkenträger verteidigen muss. Wo bleibt die Motivation, wenn die herkömmlichen Druckmittel wegfallen? Damit gab es in den Schulversuchen, von denen Salman Khan berichtet, anscheinend keine Probleme. Gleichwohl ist absehbar, dass die Umgewöhnungsschwierigkeiten gewaltig wären.

Aber bevor ich mich von der Begeisterung des Autors für sein Projekt mitreißen lasse, werfe ich einen Blick auf dessen Herzstück, die Lehrvideos – und bin ernüchtert. Da schreibt statt eines echten Lehrers ein Geisterfinger die Formeln an die Tafel; Khan selbst spricht die zugehörigen Erklärungen aus dem Off – er hat die weise Entscheidung getroffen, sich selbst nicht ins Bild zu setzen –, und nach ungefähr zehn Minuten ist die Lerneinheit schon wieder vorbei; so lang sei die typische Aufmerksamkeitsspanne eines Schülers. Ein klassischer Lehrervortrag, sachlich korrekt und so lebendig, mit Wiederholungen und Versprechern, wie bei einem echten Lehrer an der Tafel. Der krakelige Tafelanschrieb und die schiefen Handzeichnungen haben den Charme des Handgemachten und Authentischen. Aber was hätte man mit den Möglichkeiten der modernen Computergrafik nicht alles noch realisieren können! Bewegte Bilder von Funktionsgraphen, Sekanten, die gegen Tangenten streben, Gleichungen, die sich vor den Augen des Benutzers umformen … Und natürlich hätte Khan seine Lernvideos inhaltlich untereinander verlinken können.

Wie erklärt sich dann der phänomenale Zuspruch, den die Website genießt? Vielleicht aus Khans Charisma? Eher nicht, da er sich bewusst zurücknimmt. Vielleicht fassen seine Schüler die Lerninitiative als eine Art Computerspiel auf. Tatsächlich kann man für richtig gelöste Aufgaben Punkte erhalten und von einem Level ins nächsthöhere aufsteigen. Oder – die zynische Erklärung – der Mathematikunterricht in der Schule ist so schrecklich, dass die Menschen beinahe jede Alternative als Verbesserung empfinden.

Ich würde mich sicher noch hemmungsloser für Khans Erfolg begeistern, wenn ich die Gründe dafür besser nachvollziehen könnte.

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