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Mehrdeutige Wahrheiten

Seit der "Krieg gegen den Terror" tobt, prägen manche Gemeinplätze den westlichen Diskurs über den Islam und seine Anhänger, die auch durch ständige Wiederholung nicht an Wahrheit gewinnen. Die Staaten des Orients, so heißt es, seien hoffnungslos rückschrittlich, weil ihnen die zivilisatorische Erfahrung der Aufklärung fehle.

Dabei war es ausgerechnet der aufgeklärte Blick der westlichen Moderne, der in der Tradition von Descartes auch die islamische Welt nach gültigen Wahrheiten durchsuchte. Die Kultur der Muslime, so Thomas Bauer in seinem Essay "Die Kultur der Ambiguität", kannte allerdings keine einfachen Wahrheiten. Vielmehr zeichnete sich der muslimische Raum über Jahrhunderte durch eine ausgesprochene "Ambiguitätstoleranz" aus.

So waren Wahrscheinlichkeit, Vielfalt und Mehrdeutigkeit in allen Lebensbereichen der islamischen Kultur prägende Elemente. Selbst in Bereichen, die heute als Paradebeispiele für die Intoleranz der Muslime gelten, herrschte eine nahezu postmoderne Akzeptanz und Vielfalt der Möglichkeiten. Da etwa islamische Gelehrte den Koran als vieldeutigen Text verstanden, gab es mehrere gleichberechtigte Lesarten. Sich widersprechende Rechtsschulen existierten harmonisch nebeneinander. Erst der mit dem europäischen Imperialismus und Kolonialismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts erstarkende westliche Einfluss führte zu einer "Islamisierung des Islams" – und verdrängte die klassische Kultur der Muslime.

Thomas Bauer ist ein großes, ein wichtiges Buch gelungen, dem eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen ist.

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  • Quellen
epoc 6/2011

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