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Die Methoden der Tigermutter

Entwickeln sich Kinder zu glücklichen Erwachsenen, wenn sie bereits in jungen Jahren unter ständigem Druck stehen und zu Höchstleistungen angetrieben werden? Amy Chua, in den USA geborene Tochter chinesischer Einwanderer, scheint hiervon zunächst überzeugt zu sein. Mit einem ordentlichen Maß an Strenge werden Kinder zu Bestleistungen angetrieben, behauptet die Autorin. Und Spaß an einer Sache stelle sich von selbst ein, wenn man diese beherrscht, so ihre Meinung.

Aus westlicher Sicht betrachtet, verlangt Chua von ihren beiden Töchtern Sophia und Lulu geradezu Absurdes. Ihre Kinder dürfen nicht bei Freundinnen übernachten, auf Partys gehen, im Schultheater spielen, Fernsehen oder gar am Computer spielen. Wie die Kinder ihre Freizeit gestalten, bestimmt die Mutter. Täglich müssen Chuas Töchter den größten Teil ihrer Freizeit opfern, um Klavier oder Geige zu üben und für die Schule zu pauken.

Dies sei typisch chinesischer Erziehungsstil, der offenbar ganz anders ist als der westliche. "Chinesische Eltern können sich manches erlauben, womit westliche Eltern nicht durchkämen", stellt Chua fest. Sie dürfen ihre Kinder als "Abfall" beschimpfen oder vor einer großen Zuhörerschaft bloßstellen, indem sie sie mit anderen leistungsstärkeren Kindern vergleichen. In Chuas wortgewandtem Schreibstil ist eine leichte Ironie spürbar. Der Leser bemerkt Chuas aufkommende Zweifel an der chinesischen Erziehungsmethodik – obwohl die Mutter damit zunächst sehr erfolgreich ist. Ihre beiden Töchter Sophia und Lulu sind wahre Musterkinder. Sie sind in der Öffentlichkeit höflich, aufgeschlossen und wortgewandt und in der Schule Klassenbeste. Sophia spielt hervorragend Klavier, Lulu Geige. Gefördert von bekannten Musikkoryphäen, gewinnen beide zahlreiche Musikwettbewerbe. Eine der Höhepunkte ist Sophias Auftritt in der Carnegie Hall.

Doch mit Lulu gibt es immer größere Schwierigkeiten. "Bei Lulu funktionierte der chinesische Circulus vitiosus nicht", stellt Chua fest. Obwohl Lulu überaus erfolgreich ist, führt dies nicht dazu, dass sie sich noch mehr anstrengen will oder ihrer Mutter dankbar ist. Lulu lehnt sich auf – nicht nur gegen das Üben mit der Geige, sondern gegen alles, was die Mutter vertritt. Sie protestiert, indem sie lauthals schreit, sich ihre Haare in hässlichen gezackten Strähnen abschneidet oder Glas zerbricht. Schließlich gelingt Lulu der Ausbruch aus der strengen mütterlichen Obhut. "Ich hasse dich! Ich hasse die Geige! Ich hasse mein Leben!" schreit die Tochter und leitet damit das Ende der von chinesischen Regeln bestimmten Mutter-Kind-Beziehung ein. Chua gibt auf und entlässt ihre Tochter in die Freiheit.

Den Leser verwundert, wie wenig die Tochter anschließend in ihrem Leben verändert – obwohl sie nun selbstbestimmt handelt. Sie tauscht das Üben mit der Geige gegen ein intensives und ehrgeiziges Training auf dem Tennisplatz aus. Der wichtigste Unterschied zum früheren Leben ist wohl, dass Lulu den Sport mit Begeisterung und Freude treibt, und schließlich ist auch das Tennisspiel von Erfolg gekrönt. Chuas Einstellung verändert sich und schließlich bewundert sie ihre willensstarke Tochter. Am Ende kommt es zur Versöhnung. "Natürlich bin ich froh, dass du mich gezwungen hast, Geige zu lernen", sagt Lulu zu ihrer Mutter. "Ich werde sie immer lieben, die Geige."

Der Leser spürt die Herausforderung, die das Buch an ihn stellt. Chua gibt keine fertige Antwort auf die Frage nach dem richtigen Erziehungsstil, weil sie diese selbst nicht kennt. Nach chinesischem Stil erzogen, wuchs die Autorin in den USA auf und lernte die Vor- und Nachteile sowohl von westlichem als auch von östlichem Erziehungsstil kennen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Zu viel Strenge und Leistungsdruck machen krank und rauben die Kreativität, zu wenig birgt die Gefahr, dass Kindern und Jugendlichen der Halt und die Förderung fehlen, die sie benötigen, um ihr persönliches Lebensglück zu finden.

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