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Von Trompeten und Enveloppen

Beim ersten Aufschlagen überkamen mich nostalgische Gefühle: Die "Phantastische Geschichte der Analysis" versprüht mit ihrem mathematischen Minimalismus den Charme meiner Lehrbücher aus alten Studententagen. Welch ein Kontrast zu den heute üblichen bunten populärwissenschaftlichen Darstellungen des Fachs!

Hans-Heinrich Körle, Professor für Mathematik in Marburg, schreibt für ein Publikum, das nicht erst für das Fach begeistert werden will, sondern weit in inhaltliche Tiefen vordringen möchte. Und das mit großem Erfolg: Noch kein anderes Buch hat mir so viele neue und spannende Fassetten der Mathematik vermittelt. Aber "ganz ohne Mühe gibt es sie nicht, die Freude am Erkennen und Entdecken!", schickt der Autor gleichsam entschuldigend voraus - und lässt dann die Formeln auf den Leser einprasseln.

Besonderen Wert legt er darauf, die wissenschaftlichen Entwicklungen in den historisch-gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Dies komme im Lehrbetrieb viel zu kurz, und so möchte er insbesondere Studienanfängern seinen Text als Ergänzung ans Herz legen.

Das Buch besteht aus zwei annähernd gleich großen Teilen: einer Geschichte der Analysis sowie einer Sammlung von "Arbeitsproben" berühmter Forscherpersönlichkeiten. Beide Teile lassen sich problemlos unabhängig voneinander lesen. Im geschichtlichen Teil beschreibt der Autor zumeist auch das Leben der bedeutendsten Fachvertreter. Der Schwerpunkt liegt jedoch eindeutig auf der Erklärung fachlichmathematischer Hintergründe.

Die Wurzeln der Analysis sucht Körle bei den Griechen der Antike, auch wenn diese sich seinerzeit von den Gelehrten Ägyptens und Babylons inspirieren ließen. Nach dem Niedergang ihrer Mathematik verstrichen einige Jahrhunderte. Erst in der Renaissance nahm das Fach einen neuen Aufschwung, der sich nach der kopernikanischen Wende gewaltig beschleunigte. Nach etlichen Meilensteinen wie dem Prioritätenstreit zwischen Leibniz und Newton endet die Darstellung um 1900 mit der arithmetischen Begründung der Irrationalzahlen.

Unter der Überschrift "Aus Schatztruhe und Trickkiste" versammelt Körle im zweiten Teil des Buchs, wieder chronologisch angeordnet, bedeutende Sätze und Beweise aus allen Epochen der Analysis. Archimedes (287 – 212 v. Chr.) ist mit mehreren Kunststücken vertreten. Kuriositäten sind darunter wie Torricellis Trompete, jener Körper, der zwar eine unendliche Oberfläche, aber nur ein endliches Volumen hat. Und wo sonst erfährt der interessierte Leser wohl etwas über Enveloppen?

Beide Teile zusammengenommen bieten ein sehr detailliertes Bild von der Entwicklung der Analysis. Oberstufenkenntnisse sollten für die Lektüre eigentlich ausreichen, doch wichtiger sind Interesse und Spaß am Wesen der Mathematik. Die zahlreichen Skizzen unternehmen nicht den geringsten Versuch, das Auge des Betrachters zu erfreuen, sind aber ausgesprochen hilfreich. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, eine Zeittafel mit Lebensdaten entscheidender Wegbereiter sowie ein erschöpfender Index runden dieses durchweg gelungene Buch ab.

"Die phantastische Geschichte der Analysis" eignet sich nicht als Lektüre während der Bahnfahrt. Wer aber bereit ist, etwas Zeit und Muße zu investieren, dem sei das Buch aus vollem Herzen empfohlen!

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2011

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