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Ein Herz und keine Seele?

“In jedem von uns ist etwas, was keinen Namen trägt, und dieses Etwas ist das, was wir sind” – so beschreibt der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago das, was für ihn “Seele” bedeutet. Diese Definition ist kennzeichnend für den zwiespältigen Umgang in unserer Gesellschaft mit diesem schwierigen Begriff. Die Einen – Naturwissenschaftler, Mediziner, Psychologen und Philosophen – klammern die Seele aus ihren wissenschaftlichen Betrachtungen weit gehend aus. Andere beschreiben mit diesem Begriff die Einzigartigkeit der menschlichen Psyche, unsere Individualität, unseren Geist und schlicht alles, was uns zu moralisch handelnden Menschen macht. Hartmann Hinterhuber, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck, gelingt in seinem Buch ein faszinierend umfassender Überblick über die Kulturgeschichte der Seele oder – wie er feststellt – der Seele als Metapher für Psyche, Geist und Bewusstsein. Er beginnt mit ihrer “Entdeckung” vor etwa 15 000 Jahren. Damals verewigten unsere Vorfahren einen Vogel, der die Seele eines gefallenen Jägers zum Himmel trägt, in einer Felsmalerei in der Höhle von Lascoux in Südfrankreich. Weiterentwickelt wurde die Idee der Seele von den alten Ägyptern, die anfangs nur ihrem Pharao eine unsterbliche Seele zuschrieben, diese Vorstellung jedoch später regelrecht “demokratisierten”: Alle Menschen besitzen eine Seele, die unsterblich werden kann, wenn sie nach der so genannten Maat, der ägyptischen Weltordnung, leben. Die Ägypter waren auch die Ersten, die verschiedene “Seelenkräfte” definierten – eine Idee, die von den griechischen Philosophen zum Teil aufgegriffen wurde. Der griechische Arzt Hippokrates im fünften Jahrhundert vor Christus war einer der ersten, der das Gehirn als Sitz der Seele identifizierte. Die verschiedenen Auffassungen darüber, was “Seele” bedeutet und wie sie einen Zustand der Ausgeglichenheit oder Unsterblichkeit erreichen kann, werden nicht zuletzt in den Religionen sichtbar. Der Innsbrucker Psychiater nimmt sich der verschiedenen Auffassungen an und erläutert unter anderem auch Vorstellungen über Seelenwanderung. Er beschreibt den strengen Leib-Seele-Dualismus des französischen Philosophen Descartes ebenso wie die Gegenbewegungen der Romantik mit Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller bis hin zur Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts. Abschließend fordert der Autor die Entwicklung einer Neurobiologie des Bewusstseins sowie eine umfassende – “biopsychosoziale” – Herangehensweise an den Begriff “Seele”. Dieses Buch schlägt Brücken. Umfassend und kenntnisreich stellt es die verschiedensten Vorstellungen über die Seele von der Theologie über die Neurowissenschaft bis zur psychosomatischen Medizin vor. Trotz der Fortschritte der modernen Neurowissenschaften und der Demontage der Seele in manchen Bereichen der Wissenschaft stellt Hartmann Hinterhuber mit einiger Genugtuung am Ende seines Buches fest, dass die Frage nach dem menschlichen Geist, seiner Entstehung und Voraussetzungen nicht durch die Naturgesetze allein lösbar ist.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 2/2002

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