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Die junge wilde Wissenschaft von der Zauberei

Unser Gehirn lässt sich unter bestimmten Bedingungen nicht nur relativ leicht täuschen; es erzeugt auch selbst ständig Illusionen, die von seinem Besitzer unbemerkt bleiben. Das beginnt beim sprichwörtlichen blinden Fleck in unserem Auge: Wir sehen nicht, dass wir an dieser Stelle der Netzhaut nichts sehen (können), da das Gehirn die Informationen der dort fehlenden Rezeptoren einfach auffüllt. Andere Täuschungen betreffen die höheren, kognitiven Ebenen des Denkens und des Bewusstseins.

Hirnforscher versuchen mit Hilfe dieser Mechanismen einen Blick hinter die neuronalen Kulissen unseres Denkorgans zu werfen; Zauberkünstler nutzen sie für ihre eigenen Zwecke. Da liegt es nahe, durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Zauberkunst, von Dopamin und Merlin, nach neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns zu streben.

Das ist das erklärte Ziel von Stephen L. Macknik, Chef des Laboratory of Behavioral Neurophysiology am Barrow Neurological Institute in Phoenix (Arizona), und seiner Ehefrau Susana Martinez- Conde, die das Laboratory of Visual Neuroscience am selben Institut leitet (siehe auch deren Artikel in Spektrum der Wissenschaft 12/2007, S. 54, und 6/2009, S. 44). Für das vorliegende Buch haben sie die Hilfe der Wissenschaftsjournalistin Sandra Blakeslee in Anspruch genommen.

Zahlreiche Anekdoten und Berichte von Besuchen bei Zauberfachkongressen, persönliche Interviews mit einigen der weltbesten Zauberkünstler und – als roter Faden – die einjährige Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für den renommierten Zauberclub des Magic Castle in Hollywood, die "Academy of Magical Arts and Sciences", bilden das erzählerische Gerüst für das eigentliche Thema: die tricktechnischen und psychologischen Prinzipien der Zauberkunst sowie deren Verknüpfung mit dem Wissen der Forscher über die neuronalen und kognitiven Mechanismen unseres Gehirns.

Aus Spektrum der Wissenschaft 03/2012
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Ein Beispiel: Das Phänomen der Aufmerksamkeitsblindheit ist in den letzten zehn Jahren vor allem durch das "Basketballexperiment" der Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris zu großer Popularität gelangt (Spektrum der Wissenschaft 8/2011, S. 96) und hat mittlerweile unzählige weitere Studien inspiriert. Mehr als die Hälfte aller Versuchspersonen übersehen beim Betrachten eines kurzen Videoclips von sechs Basketball spielenden Studenten einen weiteren Menschen, der in einem Gorillakostüm mitten durch das Bild geht – und zwar langsam. Dem vorinformierten Beobachter scheint es geradezu unglaublich, dass eine so große, auffällige Figur einfach unbemerkt bleibt – auch wenn ihm selbst wenige Minuten zuvor genau das passiert ist.

Das Wesentliche ist nicht die Geschwindigkeit, sondern zum einen die korrekte Choreografie der Spieler und zum anderen die verbale Anweisung des Versuchsleiters ("Zählen Sie bitte die Pässe der weiß bekleideten Mannschaft!"). Das ist für Zauberkünstler nichts Neues: Sie setzen den begleitenden Vortrag als eines der Hauptmittel ein, um die Aufmerksamkeit des Publikums von den notwendigen Trickhandlungen abzulenken.

Ein weiteres Kapitel bringt neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung von Gesten, Blickrichtung und Augenbewegungen zur Steuerung der Aufmerksamkeit und erläutert, wie ein Zauberkünstler sie einsetzt, wenn er scheinbar eine Münze oder gar einen ganzen Ball aus seiner Hand verschwinden lässt.

Hier bewegen sich die Autoren auf experimentell gesichertem Terrain, da sie die Ergebnisse der (noch spärlichen) Studien referieren, die Zaubertricks im Labor untersucht haben. Merkwürdigerweise haben sie selbst jedoch noch kein einziges Experiment auf dem – von ihnen laut Klappentext angeblich begründeten – Gebiet der "Neuromagie" veröffentlicht. Fast alle Zauberexperimente stammen von dem Psychologen und Amateurzauberkünstler Gustav Kuhn von der Brunel University in London. Seit 2005 untersucht er Zauberkunststücke im Labor durch Messung der Augenbewegungen ("eye-tracking ") und mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie (fMRI). Zudem haben bereits vor über 100 Jahren die Psychologen Norman Triplett und Joseph Jastrow eine Doktorarbeit beziehungsweise Theorieaufsätze über die Psychologie der Zauberkunst in Fachjournalen veröffentlicht.

Im weiteren Verlauf des Buchs diskutieren Macknik und Martinez -Conde hauptsächlich weitere Erkenntnisse der Hirnforschung und interessante Verbindungen zu den Methoden der Zauberkunst – darunter das Phänomen der falschen Erinnerungen, die Neigung unseres Gehirns zu impliziten Annahmen und kognitiven Verzerrungen sowie die Mitte der 1990er Jahre bei Experimenten mit Affen entdeckten Spiegelneurone, deren Existenz beim Menschen in der Fachwelt allerdings noch umstritten ist.

Auf die übliche Frage "Wozu ist das nutze?« führen die Autoren die Aussicht auf einen Früherkennungstest für Autismus an, der auf Zaubertricks beruht. Dem liegt die Hypothese zu Grunde, autistisch veranlagte Menschen seien auf Grund ihrer Defizite in der zwischenmenschlichen Kommunikation weniger empfänglich für die Ablenkungsmethoden der Zauberkünstler und muüssten daher viel leichter deren Tricks durchschauen. Das klingt plausibel, nur ist bei einer ersten Studie dazu – ebenfalls von Gustav Kuhn – das genaue Gegenteil herausgekommen, was die Autoren mit keinem Wort erwähnen: Die autistischen Kinder waren leichter abzulenken und durchschauten das Kunststück weniger oft als ihre gesunden Altersgenossen.

Da es auf diesem jungen Gebiet erst sehr wenige echte Experimente gibt, bleiben viele Vermutungen hochspekulativ. Noch weiß niemand, ob der Mensch unter der Wirkung des Bindungshormons Oxytozin leichter ablenkbar ist oder ob er dank seiner Spiegelneurone eine Zaubervorstellung besser genießen kann, wenn er zuvor einige wenige Tricks erlernt hat.

Simons und Chabris haben ihr Buch erst zehn Jahre nach ihrer Basketballstudie geschrieben. Der ebenfalls zitierte Daniel Kahneman, gemeinsam mit Amos Tversky Begründer der Verhaltensökonomie, hat sich seit seinen bahnbrechenden Forschungen (Spektrum der Wissenschaft 3/1982, S. 89) immerhin 30 Jahre Zeit gelassen, bis er jüngst seine Erkenntnisse in dem populärwissenschaftlichen Buch "Thinking, Fast and Slow" niederlegte. Auch das vorliegende Buch wäre vielleicht besser zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden, mit weniger Anekdoten, dafür aber mehr inhaltlicher Stringenz und wissenschaftlicher Substanz. Außerdem hätte der deutschen Ausgabe das Gegenlesen durch einen Zauberkünstler gutgetan, um zahlreiche sinnentstellende Übersetzungsfehler von Fachbegriffen aus der Zauberkunst zu vermeiden.

Auf Grund seiner amorphen Mischung aus wissenschaftlichen Erklärungen, persönlichen Anekdoten und Lebensratschlägen ist das Buch nur bedingt empfehlenswert. Darüber hinaus sind die Behauptungen über die psychologischen und neuronalen Grundlagen von Zaubertricks mit Vorsicht zu genießen.

Es wäre schon eine seltsame, selbstbezügliche Ironie, wenn der Leser eines Buchs über wissenschaftliche Erklärungen von Illusionen selbst einer solchen erliegen würde.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2012

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