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Eine Prognose mit Schlagseite nach Norden

Der amerikanische Geowissenschaftler Laurence C. Smith, Professor und stellvertretender Chef des Fachbereichs Geografie an der University of California in Los Angeles, hat sich mit der Frage befasst, wie die Welt im Jahr 2050 aussehen wird oder aussehen könnte. Dabei fragt er nicht nach handelnden Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie es vielleicht ein Sozialwissenschaftler tun würde, sondern – typisch für einen Naturwissenschaftler – nach den Kräften, die unabhängig von den Entscheidungen Einzelner die menschliche Entwicklung bestimmen.

Vier globale Kräfte sind seiner Meinung nach entscheidend: die Bevölkerungsentwicklung, der Verbrauch natürlicher Ressourcen, die Globalisierung und der Klimawandel. Hinzu kommt als fünfte Kraft der technische Fortschritt, der auf die vier genannten einwirkt. Die Begründung für seine Wahl zieht Smith aus der Geschichte: Die Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, würden auch in Zukunft weiter dominieren.

Auf dieser Basis erzählt er, vielfach gestützt auf wissenschaftliche Modelle, die Geschichte der Zukunft in lebendigen Bildern. Viele der Themen sind uns vertraut, etwa die Herausforderungen der Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte, das starke Bevölkerungswachstum vor allem in Afrika, die Verstädterung der Welt, die Folgen des Klimawandels, die Entwicklung der Wasserressourcen und vieles mehr.

Neuigkeitswert haben für mitteleuropäische Leser eher Themen, die den Norden betreffen. Wird die Nordwestpassage, der Seeweg durch die kanadische Arktis, in den nächsten Jahrzehnten im Wesentlichen eisfrei sein? Wem gehört der Nordpol? Was geschieht mit Gebäuden und Straßen, wenn der Permafrost in hohen Breitengraden auftaut, und wie wird sich die dortige indigene Bevölkerung entwickeln?

Das zentrale Ergebnis des Buchs: Der Norden hat eine glänzende Zukunft. Begünstigt durch den Klimawandel werden vor allem Kanada, die USA und Skandinavien profitieren. Diese Länder, so Smith, sind wirtschaftsfreundlich, globalisierungsorientiert, offen für Einwanderung und bieten stabile politische Rahmenbedingungen. Die Bilanz für Russland sieht schlechter aus, vor allem wegen des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs und seiner aus dem Kommunismus stammenden, schlecht an die natürliche Umwelt angepassten Infrastruktur.

Der Text ist flüssig und spannend geschrieben; Fachjargon wurde komplett vermieden. Der Autor hat darüber hinaus viele persönliche Erlebnisse eingeflochten. Dabei hat die wissenschaftliche Tiefe nicht gelitten: Sie ist in einem 70-seitigen Anmerkungsteilenthalten. Dort finden sich auch zu fast allen Fragen Hinweise auf weiterführende wissenschaftliche Veröffentlichungen.

Interessierten Zeitgenossen wird einiges bekannt vorkommen. Vieles hat man aus der Debatte um Nachhaltigkeit, Energieversorgung und Klimawandel bereits anderweitig gehört. Die Leistung des Buchs besteht in der konsistenten Zusammensetzung so vieler Mosaiksteine zu einem plausiblen Ganzen. Das ist in Kombination mit der in bestem Sinn populärwissenschaftlichen Sprache das Hauptargument, diesesWerk zu lesen. Es erzählt eine plausible und gut belegte Geschichte der nächsten Jahrzehnte.

Allerdings leidet es unter einer grundsätzlichen Unklarheit: Will der Autor, wie er zu Beginn sagt, in einem Gedankenexperiment erkunden, wie die Zukunft aussehen kann, oder, wie viele Passagen im Text vermuten lassen, prophezeien, wie die Zukunft aussehen wird? Mehrfach formuliert der Autor »ich sehe«. Wissenschaftler sind aber keine Propheten.

Ein zweites Manko liegt in einer deutlich sichtbaren Einseitigkeit. Es geht nicht wirklich um »die Welt« im Jahr 2050, sondern vor allem um den Norden. Der Autor hat wohl eine Schwäche für diese Gebiete und ist sichtlich immer wieder froh, wenn er positive Entwicklungsmöglichkeiten für sie aufzeigen kann. Das ist alles in Ordnung. Ärgerlich nur, dass dabei der Süden aus dem Blick gerät. Außer düsteren Andeutungen, dass er sich Schwarzafrika im Jahr 2050 als einen »heruntergekommenen, übervölkerten und gefährlichen Ort« vorstellt, kommt da nicht viel. An dieser Stelle weckt der Titel falsche Erwartungen.

Insgesamt bietet das Buch trotz dieser Schieflage einen wohl einmaligen Einblick in die Komplexität der Welt heute, insbesondere in Bezug auf den Umgang der Menschen mit der natürlichen Umwelt und die systemischenWechselwirkungen, die Vorhersagen und Gestaltung so schwer machen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2012

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