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Denkst du noch, oder klickst du schon?

Der Titel sagt es schon: Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, möchte mit seinem neuen Werk vor allem provozieren, um die Menschen aufzurütteln – wozu er sich als Hirnforscher und Vater von sechs Kindern verpflichtet sieht. Seine Hauptthese: Durch zu viel Fernsehen, Handy und Computer fördern wir unser Gehirn nicht mehr genug, so dass die Nervenzellen verkümmern und die Menschheit letztendlich verdummt.

Tatsächlich nutzen vor allem Jugendliche heute sehr viel häufiger und länger Medien aller Art als noch vor einigen Jahren. Das findet Spitzer alarmierend. Jede Minute vor dem Bildschirm sei eine versäumte Gelegenheit, zu lernen und das Gehirn neuen Gegebenheiten anzupassen. Denn die moderne Informationstechnik "führt zu oberflächlicherem Denken, sie lenkt ab". Dass über den Bildschirm auch Neues und Lernenswertes kommt, diskutiert Spitzer an keiner Stelle. Er sieht lediglich eine totale "Übernahme geistiger Arbeit durch den Computer".

Insbesondere hält er es für eine große Gefahr, dass wir verlernen, uns zu konzentrieren, weil die vielen Eindrücke, die über das Internet auf uns einströmen, uns zum Multitasking nötigen. Doch vielleicht wird der Mensch eben lernen, mehrere Anfragen parallelzu bearbeiten. Wie Spitzer selbst sagt: Das Gehirn passt sich an.

Aus Google kann man nur mit Vorkenntnissen die richtigen Informationen herausfiltern, zumindest wenn es um Fachwissen geht – stimmt. Mittlerweile verlassen wir uns so sehr auf unser Navigationsgerät, dass wir die geografische Lage unseres Ziels oft gar nicht mehr vor Augen haben – stimmt auch. Das ist – 40 Jahre danach – im Wesentlichen dasselbe Argument wie, dass die Kinder nicht mehr kopfrechnen können, weil sie alle den Taschenrechner benutzen. Aber es wäre absurd, deswegen ein überaus nützliches Werkzeug zu verbieten. Und wer schon einmal mit Google Streetview seine Reise geplant hat oder, vom Sommerurlaub träumend, durch die Straßen von Valencia geschlendert ist, möchte dieses neue Medium bestimmt nicht mehr missen. Gewisse Fähigkeiten, die man früher aus Notwendigkeit perfektionierte, muss die Schule heute eben intensiver kultivieren.

Die Thesen des Autors sind zwar durchdacht. Seine Argumentationslinie lässt jedoch in den meisten Fällen zu wünschen übrig. Im Grunde versucht Spitzer den Leser davon zu überzeugen, dass er als promovierter Mediziner und Halbgott in Weiß die Wahrheit kenne und die richtigen Literaturstellen für uns gelesen habe.

Im Lauf des Buchs schreibt sich Spitzer mehr und mehr in Rage und greift zu immer populistischerem Vokabular. Neue Medien stempelt er als "Lernverhinderungsmaschinen" ab; Computer und Smartboard seinen aus den Schulen zu verbannen.

Die legitime Forderung nach mehr Medienkompetenz vor allem bei Jugendlichen weist er zurück. Es würde ja auch keiner auf die Idee kommen, ein Training für Alkoholkompetenz im Kindergarten anzubieten. Was für ein lächerlicher Vergleich! Bei allen Vorbehalten gegen die Medien: Sie bieten nun wirklich weit mehr sinnvolle und produktive Entfaltungsmöglichkeiten als ein Alkoholrausch. Sollen wir uns ernsthaft davor verschließen?

Wir wollen "Kinder so lange wie möglich von digitalen Medien fernhalten", schreibt Spitzer. Dieser Versuch ist in der heutigen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt, und damit schlägt die edle Absicht, Sicherheit durch Unwissenheit herzustellen, ins Gegenteil um. Natürlich müssen wir unsere Kinder über die Gefahren des Internets und der Medien aufklären. Dabei ist es wenig hilfreich, sie von vornherein als völlig dumm und irrational darzustellen.

Spitzers Tirade gegen die böse Elektronik- und Werbeindustrie, die uns ausnutzt und mit immer neuen Angeboten lockt, ist ausgelutscht. Wir dürfen vor allem unsere Kinder nicht unkontrolliert dem freien Markt überlassen, sagt Spitzer. Es ist aller Ehren wert, dass der Autor die Welt retten möchte. Und wenn er es mit seinem Buch schafft, Menschen wachzurütteln und zu bewussterem Mediengebrauch zu veranlassen: um so besser. Entscheiden muss trotzdem jeder für sich selbst.

An manchen Stellen lassen einen Spitzers Argumente schmunzeln, andere Passagen möchte man überspringen, weil sie so redundant sind. Wie viele Gehirnzellen sich bei der Lektüre gebildet und verknüpft haben, bleibt offen.

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