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Das Ding mit Dirac

Ein Buch mit dem schlichten Titel "Dirac" weckt natürlich nahe liegende Erwartungen. Oha, möchte man ausrufen, etwa ein biografischer Roman über Paul Dirac? Spontan kramt man nach dem, was man über diese doch eher graue Eminenz der Physik des 20. Jahrhunderts weiß: Dirac-Gleichung, Antimaterie, Nobelpreis 1933 zusammen mit Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Ein schlaksiger Typ, zurückhaltend, vielleicht etwas weltfern wirkend; jemand, der nur für seine Wissenschaft lebte. Vielleicht fällt einem noch die etwas esoterische Hypothese der großen Zahlen ein. Aber was macht diese violetthaarige Rollstuhlfahrerin auf dem Cover? Vorweg gesagt: Das wird hier nicht verraten.

Dietmar Daths Buch ist keine erzählte Biografie von Paul Dirac, sondern ein autobiografischer Roman. Hier soll den Lesern nicht auf belletristischem Wege die Quantenphysik schmackhaft gemacht werden. Natürlich spielt Dirac eine entscheidende Rolle, aber weniger als Figur der Physikgeschichte, sondern als Thema für ein Buch, dass David Dalek, Hauptfigur in Daths Roman, schreiben will – David Dalek ist unzweifelhaft als dichterische Version des Autors Dietmar Dath zu erkennen. David hat, vermutlich ähnlich wie Dietmar, sein Sprachwissenschafts- und Physikstudium abgebrochen, ist Journalist und Redakteur geworden und hat bereits Bücher beim "Wichtigverlag für Wichtige von Wichtigen" veröffentlicht. Ob sich wohl Herr Unseld über diese Charakterisierung seines Verlages gefreut hätte?

Grob gesprochen sind es drei Erzählebenen, die Dietmar Dath ineinander schachtelt: Zum einen David Daleks Bemühungen, ein Buch über Paul Dirac, "sein Dirac-Ding", und die Ereignisse, die sich währenddessen im Leben einiger seiner Freunde ereignen zu schreiben, zweitens Rückblenden in Davids Schulzeit in den 1980er Jahren und schließlich das Leben von Paul Dirac selbst. Ein Leitthema ist dabei "Roswell", der Lieblingsort aller UFO-Verschwörungstheoretiker. Der Autor knüpft hier ein postmodern gewirktes Netz aus Anspielungen und inhaltlichen Bezügen zwischen Hoch- und Trivialkultur. Dabei erlaubt er sich auch mal betont feuilletonistische Anspielungen wie "ein heideggerianisches Schild warnt: 'Gusty winds may exist', meiden sie die Holzwege". Nun ja. Und der Name Dalek? Spielt das auf die Daleks, die bösartigen Außerirdischen in der britischen Science-Fiction-Fernsehserie "Doctor Who" an, die mit ihrem metallischen Ruf "Exterminate! Exterminate!" die Kinder in britischen Wohnzimmern erschreckten?

Dath stellt in seinem Roman nicht die großen Fragen der Physik, sondern die existenzielle Frage: "Wie sollen wir leben?" Wahrlich, eine berechtigte Frage! Das Leben von David und seinen Freunden liest sich da wie eine Chronik des Scheiterns beim Versuch, diese Frage zu beantworten. Die Freunde sind allesamt Mittdreißiger – darunter Davids bester Freund Paul, ein Computerprogrammierer, dessen psychisch labile Freundin Nicole, der Psychiater Christof, Klassenkamerad von David und Paul, die Wissenschaftlerin Sonja und die Künstlerin Johanna.

Ihnen passiert so einiges, während David an seinem Dirac-Ding arbeitet: So wird Nicole von Paul schwanger, Johanna bereitet ihre erste Einzelausstellung vor, Christof gerät mit seiner Praxis ins Schlingern, und David fährt zunächst auf eine Journalistenreise nach Israel, um dort auf Sonja zu treffen und macht sich schließlich auf zu einer Recherche nach Roswell.

All diese Geschehnisse und Personen ranken sich um die Frage nach der rechten Lebensführung: Haben die Mittdreißiger die Ideale ihrer Jugend verraten? Haben sie in ihrem Leben etwas vergessen, das sie einmal gewusst haben? Diese Fragen entfalten sich im Spannungsfeld zwischen der gegenwärtigen Desillusionierung der Protagonisten und den Idealen ihrer Schulzeit, insbesondere der kommunistischen Ideologie und Kapitalismuskritik, die David und Paul als 16-jährige pubertär-prahlerisch zur Schau stellen.

Inwieweit Dath mit seinem Buch die "großen Frage" beantwortet oder wenigstens überzeugend stellt, hängt davon ab, ob man es Paul Dirac zugestehen will, dazu etwas Entscheidendes zu sagen zu haben, und ob man dies den vorgestellten Mittdreißigern zutraut. Mir, Physiker und selbst Mittdreißiger, hat sich dies nicht unmittelbar erschlossen. Dirac bleibt für mich ein durchaus genialer und bis zur Versponnenheit konsequenter Physiker, dem Ästhetik ein wichtiges Leitbild für seine Forschung war. Und die Gruppe der Mittdreißiger im Roman ist für mich eine Clique, zu der ich keinen rechten Zugang finde. Aber das ist nicht die Schuld des Buches oder des Autors, der konsequent Themen und Personen, welche ihn faszinieren und an denen ihm liegt, zusammen mit eigenen Erfahrungen in einen Roman gegossen hat. Manchmal ist mir das allerdings allzu sehr Nabelschau.

Humor blitzt bei Dath immer dann auf, wenn er sich in die Perspektive der "krankhaften" (oder eher vermeintlich krankhaften) Wahrnehmung von Nicole versetzt. Der erzählerische Sog dieser Passagen hat mich wirklich gepackt. Sonst hielten mich viele Teile des Buche eher auf Distanz, weil sie mir zu konstruiert und gewollt erschienen. Die Dirac-Passagen lesen sich, trotz des erfundenen "Nichtöffentlichen", dann doch eher wie ein etwas nüchterner biografischer Roman. Manchmal drängte sich mir die Frage auf, wie wohl ein Buch mit dem Titel "Pauli" funktioniert hätte – mit Wolfgang Pauli in der Rolle von Dirac und Atlantis in der von Roswell. Dass Dietmar Dath von Diracs Leben und Werk fasziniert ist, nehme ich ihm ab, auch wenn ich diese Faszination nicht teile.

Dirac gewinnt immer dann an Profil, wenn ihm als Gegenpart Robert Oppenheimer gegenüberstellt wird: Der schweigsame Gelehrte Dirac, jeder Ablenkung durch die äußere Welt abhold, und der Erbauer der Atombombe, der kulturbeflissene "Weltenzerstörer" Oppenheimer, der sich als Physiker nicht aus der Sphäre der Machtpolitik heraushalten wollte. Spiegelt sich das Verhältnis von Dirac zu Oppenheimer im Freundespaar David und Paul? Das drängt sich auf, wenn Johanna über die beiden sagt: "Du bist einer, der meistens nur im Gedanken handelt. Aber Paul ist umgekehrt einer, der handelt, damit er denken kann." Da fühlt man sich an die typischen Freundespaare bei Hermann Hesse erinnert und den ewigen Widerstreit zwischen "Vita activa" und "Vita contemplativa".

Nach der Lektüre finde ich es aber dann doch spannend, darüber nachzugrübeln, ob der rote Faden, den Dath von den großen Physikern des 20. Jahrhunderts zu den problembeladenen Mittdreißigern der Jetztzeit spannt, trägt oder reißt. David scheitert im Roman an seinem "Dirac-Ding". Scheitert David Dath mit seinem Roman "Dirac"? Oder macht er gerade aus dem Scheitern eine Tugend? Für Antworten auf diese Frage muss man den Roman wohl selbst lesen. Anregend ist die Lektüre durchaus.

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