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Einstein-Forschung im Vorbeigehen

Vor hundert Jahren trat Albert Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie aus dem Schattendasein des Patentamtsangestellten und "Hobby-Forschers" in die Welt der so genannten großen Physiker über. Die Öffentlichkeit nahm ihn allerdings erst 1919 so richtig war, nachdem der britische Astronom Arthur Eddington während einer totalen Sonnenfinsternis eine der Vorhersagen der Speziellen Relativitätstheorie direkt verifizieren konnte – das ist natürlich das Beste, was einer wissenschaftlichen Hypothese passieren kann.

Von diesem Moment an wurde der mittlerweile professionelle Physiker Albert Einstein zum modernen Popstar wider willen. Diese Geschichte liest sich immer wieder neu und ist immer wieder spannend: Ausgerechnet der scheue Physiker, der die Menschheit zwar liebt, aber nichts mit ihr zu tun haben will, wird zum Weltweisen erklärt, der Stellung zu Dies und Das nehmen soll, an dessen Lippen die Reporter hängen und von dem die Verlage heute noch gut leben. Wie kommt es, dass alle Albert Einstein mögen, ihn aber keiner versteht?

Die neue Biografie von Jürgen Neffe bringt uns den Menschen Einstein und seine Zeit näher als so manch andere im Einstein-Jahr schnell heruntergeschriebene Biografie. Der Autor behandelt ihn wie einen Monolithen, um den er schreibend kreist: Einstein als Ehemann, als Vater, als Lehrer, als Forscher, als Amerikaner – immer auf der Suche nach den Konstanten in der Person Einstein. Aus der Vereinigung dieser unterschiedlichen Blickwinkel entsteht ein facettenreiches und vollständiges, quasi dreidimensionales Bild Albert Einsteins, wie man es so in anderen Büchern nicht findet.

Eine Warnung vorweg: Ob Relativitätstheorien oder Quantenmechanik, wer die Physik zur Zeit Einsteins sucht, wird in diesem Buch nur sehr bedingt fündig. Im Zentrum steht hier eindeutig Einsteins Biografie, seine Familie im Allgemeinen, seine Kinder im Besonderen. Dennoch gelingt es dem Physiker Jürgen Neffe mit wohlgesetzten Worten, den Leser in einen fachlich kompetenten Beobachter der legendären Diskussionen um die Quantenmechanik und der abstrusen Hetzkampagnen deutschnationaler Wirrköpfe zu verwandeln. Auch wenn es nicht das Ziel dieses Buches ist, die verschiedensten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Einsteins im Detail darzustellen, so bleibt beim Leser doch das gute Gefühl, das Wichtigste mitbekommen zu haben.

Gerade in den Auseinandersetzungen Einsteins mit den Größen seiner Zeit liegt ein ganz eigener Reiz seiner Biografie: Es scheint einfach niemanden von Rang und Namen zu geben, der nicht mit Einstein korrespondierte oder ihm begegnete. Und so trifft der Leser in dem Buch neben Albert Einstein auch auf Thomas Mann, Sigmund Freud, Max Planck, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Charlie Chaplin, dem unsäglichen Fritz Haber und und und.

Zum Höhepunkt läuft Jürgen Neffe auf, wenn es um die Schilderung der Einstein-Forschung selbst geht. Das verwundert nicht, war er doch selber Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und danach Journalist beim Spiegel. Dies sind ideale Voraussetzungen, um aus dem Einstein-Archiv der Hebrew University in Jerusalem, dem Einstein Papers Project am California Institute of Technology und anderen Forschungseinrichtungen zu berichten und gleichzeitig, um über alle Beteiligten mit journalistischer Neugierde lebendig zu schreiben.

Überhaupt die Schreibe: Jürgen Neffes Stil ist sprachlich anspruchsvoll, gewitzt, zuweilen polemisch. Trotz des aufwändig recherchierten Inhalts verkneift es sich der Autor, den Leser mit zu vielen Details zu befrachten – das Buch ist von Anfang bis Ende flüssig lesbar. Es ist schon bemerkenswert, wie es dem erfahrenen Journalisten Jürgen Neffe gelingt, sich stets am authentischen Material und an Zitaten entlang zu hangeln, ohne dass der Text sperrig und unleserlich wird. Ob es um die Liebesbriefe Einsteins geht oder um den aktuellen Stand der modernen Quantenmechanik, für alles findet Jürgen Neffe zitierfähige Zeugen, die sich in den üppigen Quellen- und Literaturangaben am Ende des Buches wieder finden. So erhält das Buch eine hohe Autorität, die von der sprachlichen Eleganz und dem Witz Jürgen Neffes gleich wieder temperiert wird.

Ein Wort zum Schluss: Man trifft immer wieder auf Leute, die meinen, eine neue Einstein-Biografie sei unnötig, da doch über Einstein schon alles gesagt wurde. Dahinter verbirgt sich eine völlig falsche Vorstellung von der Art und Weise historischer Forschung. Wie aktuell und spannend die Einstein-Forschung ist, vermittelt dieses Buch dem Leser im Vorbeigehen.

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