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Liebeserklärung eines Forschers

Walter Lewin ist ein begnadeter Dozent. Mehr als 30 Jahre lang hat er seine Studenten am MIT für Physik begeistert; Millionen Zuschauer betrachten die Aufzeichnungen seiner Vorlesungen im Internet. Nun will er auch seinen Lesern "die Unschuld nehmen": Ein einziger Blick durch physikalisch trainierte Augen kann die Wahrnehmung der Welt verändern – davon ist Lewin überzeugt.

Bereits im ersten Kapitel versteht es der außergewöhnliche Physikprofessor, Anekdoten aus seinem wissenschaftlichen Alltag behutsam mit anschaulichen Ausflügen in die Theorie zu verweben: von weißen Wolken und blauem Himmel bis zur Ausdehnung des Universums. Es folgen ergreifende Kindheitserinnerungen aus seiner jüdischen Familie in den Niederlanden, die von den Nazis zum Teil ermordet, zum Teil in alle Winde verstreut wurde. Ist das Buch doch eher eine Biografie?

Die folgenden Kapitel erinnern an eine Vorlesungsserie – so klar gegliedert, dass man mühelos Themen überspringen kann, die man schon in der Schule gehasst hat, wie Druck, Akustik und Bewegungsgesetze. Aber lassen Sie sich zumindest Lewins wundervolle Ausführungen zu den Geheimnissen des Regenbogens nicht entgehen! Einige Tage nach Lektüre des Buchs beobachtete ich einen prächtigen doppelten Regenbogen in der Abendsonne, und Lewin behielt Recht mit dem, was er die "Schönheit des Wissens" nennt. Wer die Physik des Regenbogens begreift, sieht ihn mit anderen Augen.

Auch die Themen, die nicht so offensichtlich zu Lewins Favoriten gehören wie atmosphärische Lichtspiele, erklärt er lebensnah und routiniert. Aber seine eigentliche Liebe gehört der Astrophysik. Hier hat er Karriere gemacht und war an bahnbrechenden Entdeckungen beteiligt. So wirkt die erste Hälfte des Buchs wie eine hastig absolvierte Vorbereitung, bis er in Kapitel 10 endlich zu "Röntgenstrahlen aus dem Weltall" kommen kann. Bis zum Schluss bleibt Lewin dabei und reißt den Leser immer tiefer in die Geschichte der Röntgenastronomie, die auch seine eigene ist. In Kapitel 14 wird es spannend wie im Kriminalroman, als Lewin mit seinen Messungen versehentlich die nationale Sicherheit gefährdet und sogar seine sowjetischen Kollegen überreden muss, ihre seltsamen Daten zurückzuhalten.

Ein meisterhafter Erklärer kann auf Bilder verzichten, aber Lewin tut das überraschend konsequent. Das ganze Buch enthält nur sieben kleine Bilder. Viel häufiger verweist er auf ergänzendes Material im Internet, wie die Videos seiner Vorlesungen oder Fotos von physikalischen Phänomenen – ein unbequemer Ersatz, der überdies von der im Internet üblichen raschen Veraltung bedroht ist.

Die deutsche Übersetzung entscheidet sich oft dagegen, die direkte Ansprache "you" zu übernehmen, mit der Lewin – beziehungsweise sein Ghostwriter Warren Goldstein – im englischsprachigen Original "For the Love of Physics" seine Ideen dem Leser nahebringt. Die unpersönlichere deutsche Variante "man" verleiht dem Text eine etwas distanzierte und verstaubte Note. Dazu gesellen sich vereinzelte Fehler bei der Übersetzung von Zahlenwerten und Kleinigkeiten, die in einer ersten Auflage aber verzeihlich sind.

Im letzten Kapitel schreibt Lewin von seiner Liebe zur Kunst und verleiht dem Buch wieder den Hauch einer Biografie. Nur in Randbemerkungen erfährt der Leser von persönlichen Ereignissen wie einer schweren Herzoperation, oder dass seine erste Ehe an seiner Hingabe für die Forschung scheiterte. Über die Person Walter Lewin weiß ich auch nach Ende der Lektüre nicht viel, wohl aber über den Wissenschaftler, der im Flugzeug Fensterplätze abhängig von Flugzeit und -richtung bucht, um die beste Sicht auf berechenbare atmosphärische Erscheinungen zu haben.

Wie in seinen Vorlesungen wird es Lewin gelingen, Menschen für etwas zu begeistern, was sie vorher nur als Pflichtfach wahrgenommen haben. Auch wer längst die Schönheit der Physik erkannt hat, wird von ihm lernen können, über Alltägliches wie das Trinken mit dem Strohhalm oder über Kosmisches wie Röntgendoppelsternsysteme.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2012

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