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Wo die wilden Wälder wachsen

Ein blauer Blütenteppich breitet sich unter riesigen Buchen aus: Es ist Frühling im Hallerbos-Wald, und Hasenglöckchen blühen zu Zehntausenden im Unterholz. Kaum zu glauben, dass sich diese Naturattraktion nur wenige Kilometer südlich von Brüssel befindet – inmitten von Gewerbegebieten. Und doch ist hier etwas übrig geblieben, was viele Menschen im dicht besiedelten Kulturraum Europas wohl nicht mehr vermuten: Natur, die sich selbst überlassen bleibt.

In der Tat existieren von Gibraltar bis Moskau und von Stockholm bis nach Sizilien nur noch wenige Flecken, die sich Urwald nennen dürfen – und eine nennenswerte Größe aufweisen. Nur in den Weiten Lapplands oder Nordrusslands, im Kaukasus und vielleicht noch in den Karpaten blieben mindestens 500 Quadratkilometer große, intakte Urwälder vorhanden, in denen die natürlichen Kreisläufe von Werden und Vergehen, der Kiefern, Fichten, Eichen und Buchen ohne die Arbeit der Förster ablaufen.

Viele dieser Gebiete – und ein paar Urwaldreste aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Spanien und vom Balkan – stellt der Bildband "Europas wilde Wälder" von Markus Mauthe und Thomas Henningsen vor. Unterteilt in die vier Himmelsrichtungen stellt das Buch den Bayerischen Wald, den Bialowieza-Nationalpark aus Polen, die Abruzzen-Wälder aus Italien oder die Gegend rund um den Inari-See in Finnland vor. Mit eindrücklichen Aufnahmen von Markus Mauthe reist der Betrachter durch alle Jahreszeiten und lernt so alle Facetten der Wildnis kennen.

So biegen sich Fichten im Harz oder in Lappland unter Schneemassen, erblüht der Buchenwald im Frühling mit Hasenglöckchen und Bärlauch, glänzen italienische Bergwälder mit Teppichen aus Stiefmütterchen im Sommer und glühen Laubwälder im Herbst golden auf, bevor sie ihre Blätter verlieren. Auch die Tierwelt kommt nicht zu kurz: Bärenmütter führen ihre Jungtiere spazieren, der Habichtskauz gleitet auf der Jagd über schneebedeckte Lichtungen und Millionen Bergfinken rasten im Schwarzwald, um Nahrung zu suchen.

Andere Bilder gehen auf natürliche Prozesse im Wald ein: Sie zeigen, dass auch das Sterben zur Natur gehört – etwa wenn Borkenkäfer einen ganzen Fichtenbestand im Bayerischen Wald zur Strecke bringen (was in den 1990er Jahren die ortsansässige Bevölkerung in Rage und den Nationalpark schwer in die Kritik brachte). Heute wuchert unter den Skeletten der toten Fichten längst der Urwald von morgen heran.

"Europas wilde Wälder" erspart einem den Anblick von öden Forsten, Kahlschlag oder in saurem Regen verätzten Baumruinen. Doch in den Texten von Thomas Henningsen, Waldfachmann bei Greenpeace (die Organisation hat das Buch initiiert), wird deutlich, dass für Buche und Co auf unserem Kontinent längst nicht alles bereits auf einem grünen Zweig ist. In Mitteleuropa sind viele Naturwaldreservate winzig klein, in Nord- und Osteuropa stehen die letzten großen Urwälder der Region noch längst nicht alle unter Schutz.

Es scheint ein Unding, dass Europäer die Brasilianer und Indonesier für ihren Raubbau kritisieren und selber zulassen, dass auf ihrem Kontinent noch die letzten Reste Wildnis unter der Kettensäge verschwinden. Ein bisschen störend wirkt in den Texten allerdings der Greenpeace-Duktus, wenn vom "Klimagift" Kohlendioxid oder dem "tödlichen" Klimawandel die Rede ist. Ein etwas sachlicherer Tone würde der Sache sicherlich nicht schaden, wirkt er doch noch glaubwürdiger – doch das nur am Rande.

Wem die Natur und Fotografie am Herzen liegt, für den ist dieses Buch auf alle Fälle ein Gewinn. Der Rezensent hat sich jedenfalls darin einige Anregungen für einen der nächsten Urlaube geholt.

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