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Willensfreiheit, Schuld und Strafe

Viele Hirnforscher würden vermutlich folgender Aussage zustimmen: Der so genannte freie Wille ist eine Illusion, die sich umso mehr verflüchtigt, je genauer die Wissenschaft die neuronalen Prozesse betrachtet, die eine Handlung ausmachen. Insbesondere Gerhard Roth und Wolf Singer haben diese Position öffentlichkeitswirksam vertreten und damit eine lebhafte Debatte ausgelöst. Nachdem der Pulverdampf der ersten Polemik sich verzogen hat, wird ein recht komplizierter Frontverlauf zwischen Leugnern und Verteidigern der Willensfreiheit sichtbar. Die drei hier zu besprechenden Bücher untersuchen die Frage unter dem Aspekt, welche praktischen Folgen all das für unser Rechtssystem haben kann.

Eine mich überzeugende Abwägung von Für und Wider gelingt dem Philosophen Michael Pauen (siehe auch Spektrum der Wissenschaft 1/2009, S. 54). Auf der einen Seite führt ein absolut freier Wille schon aus rein begrifflichen Gründen zu Widersprüchen: Wenn ich von einem Augenblick zum anderen völlig spontan einmal dies, einmal das tue, verliere ich sogar mir selbst gegenüber jede Kontrolle, und nie kann persönliche Kontinuität entstehen. Wir setzen für eigene und fremde Taten selbstverständlich Gründe voraus; das heißt, auch ganz ohne Hirnforschung haben für uns Handlungen immer Ursachen, sind also determiniert. Auf der anderen Seite hält Pauen nichts davon, das, was wir normalerweise mit Willensfreiheit meinen, also das bewusste Abwägen zwischen Handlungsalternativen, als pure Illusion zu betrachten. Auch wenn letztlich dabei naturgemäß immer neurologische Prozesse ablaufen, brauchen wir zum Verständnis einer Tat deren persönlichkeitspsychologische Gründe und Motive. Insofern besteht für Pauen kein Widerspruch zwischen Handlungsfreiheit und Naturkausalität.

Auf diese Weise behält auch der Begriff der Verantwortung seine Berechtigung, und der strafrechtliche Schuldbegriff wird im Prinzip beibehalten, ist allerdings im Licht hirnphysiologischer Erkenntnisse einzuschränken. Gerade besonders abscheuliche Delikte hängen nachweislich oft mit angeborenen oder früh erworbenen neuralen Schädigungen zusammen. Dies führt zum "Schuldparadoxon" (Gerhard Roth): Just bei schwersten Verbrechen, die förmlich nach drakonischer Strafe schreien, liegen besonders starke mildernde Umstände vor.

Die hier skizzierte Position zum Problem von Willensfreiheit und Strafrecht vertreten Pauen und Roth gemeinsam in einem schmalen Suhrkamp-Bändchen sowie – zusammen mit dem Strafrechtsprofessor Ernst-Joachim Lampe – ausführlicher als Herausgeber eines umfangreichen Sammelbands. Während diese beiden Bücher sich sehr um seriöse Problemanalysen bemühen, kommt bei der Aufsatzsammlung "Entmoralisierung des Rechts" die Polemik nicht zu kurz, und das sorgt für beste Unterhaltung. Herausgeber sind außer Gerhard Roth der Philosoph und Managerberater Klaus-Jürgen Grün sowie der als Fernsehmoderator bekannt gewordene Journalist, Jurist und Philosophiedoktorand Michel Friedman.

In dem Büchlein wird Pauen an mehreren Stellen als jemand genannt, der sich scheut, die nötigen radikalen Konsequenzen aus der modernen Hirnforschung zu ziehen. Das wirft die pikante Frage auf, wie Roth darüber wirklich denkt.

Klaus-Jürgen Grün hat mit Versöhnung gegensätzlicher Standpunkte nichts im Sinn. In einer glänzenden Tour de Force postuliert er: Durch die moderne Hirnforschung – als einen Kronzeugen zitiert er Roth – bleibt vom Konzept des freien Willens nichts mehr übrig. Den Widerstand gegen diese Konsequenz ortet Grün unter "Funktionären der Geisteswissenschaften und des kirchlichen Glaubens". Insbesondere, so Grün, stünden Christian Geyer, Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und seinerseits Herausgeber eines älteren Suhrkamp-Bands zum Thema, sowie der Philosoph Robert Spaemann dem Opus Dei nahe. Diese katholische Laienorganisation wird von Kritikern als sektenartiger Geheimbund beschrieben, der blinden Gehorsam und extreme Selbstkasteiung fordert.

Michel Friedman will klären, was ohne Willensfreiheit von Moral und strafrechtlicher Schuld übrig bleibt. Er argumentiert mit Nietzsches Moralkritik und den Resultaten der Hirnforschung gegen den herkömmlichen Schuldbegriff, plädiert für einen neurobiologisch aufgeklärten Humanismus und schließt: "Es ist der Mensch mit seiner gesamten soziologischen und biologischen Vorgeschichte und nicht allein die abstrakte Handlung des Täters, die wir mit Strafe belegen, um künftig weniger strafen zu müssen."

Die Debatte um den freien Willen ist zwar noch lange nicht zu Ende, aber sie artet zurzeit in einen Streit um ideologisch aufgeladene Worte wie Freiheit und Schuld aus. Freiheit ist ein hohes Gut, aber es sind nicht die Naturgesetze, die sie gefährden. Schuld ist ursprünglich ein religiöser Begriff: Wer eine böse Tat begeht, macht sich schuldig vor Gott und muss dafür bestraft werden. Im säkularisierten Strafrecht besteht Schuld – oder vielleicht besser Verantwortung? – im bewussten Übertreten der Gesetze, die das Zusammenleben regeln, und davor schützt sich die Gesellschaft durch Sanktionen.

Die Hirnforschung, so ein Fazit aus allen drei Büchern, kann helfen, das individuelle Ausmaß der Schuld zu bestimmen, Prävention und Therapie zu verbessern und dadurch den Schutz der Gemeinschaft vor egoistischer Gewalt zu erhöhen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2010

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