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Reise durch die Tropen

Was macht eine Folge von Lauten oder Wörtern zu Poesie? Vor allem ihre klangliche und semantische Assoziationsfülle, das Spiel mit Mehrdeutigkeiten und originellen Verknüpfungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Insofern spiegelt die Lyrik den menschlichen Geist schlechthin, denn dieser konstruiert laufend Zusammenhänge und "dichtet" der Welt somit Sinn an.

Was läge da näher, als die Parallelen zwischen Literatur und Neuropsychologie auszuloten? In diesem Buch ist das auf lehrreiche Weise geglückt. Den mehr als 500 Seiten starken Band als Fundgrube zu bezeichnen, wäre in doppelter Hinsicht treffend: Zum einen versammelt er eine große Zahl von lyrischen und wissenschaftlichen Kleinoden – Gedichte der Weltliteratur ebenso wie Klassiker der Kognitionsforschung; zum anderen spielt der Sprachgebrauch im übertragenen Sinn darin die Hauptrolle.

Das Autorenduo, bestehend aus dem Lyriker Raoul Schrott und dem Psychologieprofessor Arthur Jacobs (der trotz englisch anmutendem Namen aus Düren in der Eifel stammt und an der FU Berlin lehrt), unternimmt eine Reise durch die Tropen in 38 Kapiteln. Der Begriff tropos (griechisch für "Wendung") bezeichnet den Werkzeugkoffer der Dichter: ebenjene Stilfiguren, mit denen sie lyrische Wirkungen erzielen – wie Metapher, Metrum oder Ironie (um nur einige der geläufigsten zu nennen). Ihnen begegnen wir im Buch auf Schritt und Tritt.

Die meisten Kapitel betrachten zunächst anhand literarischer Beispiele die Effekte von Reim, Rhythmik, bildhafter, lautmalerischer, ironischer oder sonstwie lyrischer Stilmittel. Ergänzende Infoboxen liefern dann jeweils wichtige neuropsychologische Hintergründe: Ob Spiegelneurone, Gestaltwahrnehmung, Gefühlsausdruck, semantische Netze, kindlicher Spracherwerb, nonverbale Kommunikation, Humor oder Musik – viele Themenfelder der Forschung werden in knapper, gut verständlicher Weise vorgestellt, wobei neben Klassikern auch aktuelle Arbeiten zu Wort kommen. Das dürfte nicht nur Studierende auf der Suche nach Referatsquellen erfreuen, sondern überhaupt jeden an Psychologie und Hirnforschung Interessierten.

Die Autoren schlagen eine Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Während der interdisziplinäre Austausch andernorts meist wohlmeinendes Aneinandervorbeireden produziert, spielen sich Schrott und Jacobs gekonnt die Bälle zu: Des einen gelehrte Exegese von Gedichten und Übersetzungsproblemen bildet den Kontrapunkt zu den Forschungsberichten des anderen.

Herausgekommen ist weit mehr als ein Streifzug durch die Neuropoetik – nämlich ein umfangreiches Kompendium über Gehirn, Sprache und Denken. Wie es Kompendien so an sich haben, eignet sich das Buch weniger dazu, es von vorne bis hinten durchzulesen. Vielmehr sollte man sich treiben lassen, hier und dort hineinlesen oder sich von den zahlreichen Grafiken zum Einsteigen verlocken lassen. Vor allem aber sollte man dieses Buch immer wieder zur Hand nehmen – es gibt stets Neues und Anregendes darin zu entdecken.

Wenn man den Autoren eines vorwerfen will, dann nur, dass sie den Leser selten an die Hand nehmen, um ihn etwa mittels Ausblicken oder Querverweisen durch das Dickicht der Informationen zu leiten. Auch sprachlich dominiert eher ein nüchterner, manchmal dozierender Ton.

Hier hätten erzählende Passagen oder sogar praktische Schreibübungen den Text auflockern können. Dennoch: Wer sich über die Poetik des Gehirns fundiert informieren möchte, für den ist dieses Buch eine äußerst lohnende Lektüre.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 6/2011

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