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Ausgezeichnetes Potenzial

Es ist ein mutiges Unterfangen, angesichts der anglo-amerikanischen Konkurrenz ein deutsches Genetiklehrbuch herauszugeben. Jochen Graw hat in einem Kraftakt den Klassiker "Hennig" völlig überarbeitet, und die Anstrengung hat sich gelohnt! Anders als die meisten Lehrbücher, die den Titel "Genetik" beanspruchen, beschränkt sich Graw nicht auf die Molekularbiologie und ein paar andere ausgewählte Lieblingskapitel, sondern versucht alle Gebiete der Genetik abzudecken.

Entwicklungsgenetik, Populationsgenetik und Neuro- bzw. Verhaltensgenetik sind eigene Kapitel gewidmet und auch den sehr aktuellen Themen Epigenetik und Imprinting ist großzügig Raum gegeben. "Exotische" Themen wie beispielsweise B- und L-Chromosomen, ungewöhnliche Meiosen bei Sciara, DNA-Elimination, die in anderen Lehrbüchern längst Kürzungen zum Opfer gefallen sind, blieben im Graw erfreulicherweise erhalten. Einer dieser "zytogenetischen Klassiker", die Makronukleusentwicklung bei Ciliaten wird, durch die Verbindung zu kleinen regulatorischen RNAs, in der nächsten Auflage seine Existenzberechtigung beweisen.

Der Autor scheut sich auch nicht vor hochaktuellen Themen wie RNA-Interferenz, wohl wissend, dass bis zur Drucklegung seine Darstellung bereits überholt sein könnte. Die Hinweise auf die schnelle Entwicklung der Forschung und die Dynamik der Modellvorstellungen sind gerade im Grundstudium sehr wichtig.

In den Kapiteln "Humangenetik und Anthropologie" und "Genomforschung" wird der Bezug zur Bioethik deutlich. Noch immer tun sich Fachwissenschaftler schwer, diese Themen offensiv anzusprechen, hier ist zumindest ein Anfang gemacht, der in Zukunft gewiss erweitert wird.

Der Graw hat ein ausgezeichnetes Potenzial, indem er die Breite der Genetik in der Form darstellt, die im Biologiegrundstudium erwartet werden sollte und die in kaum einem anderen Lehrbuch gegeben ist. Natürlich sind in dieser Auflage unter neuem Namen kleinere Fehler enthalten und einige Abschnitte sind gewiss verbesserungswürdig. So verlieren sich beispielsweise die "mobile Elemente" in unnötigen Details und werden dadurch komplizierter als nötig. Im Kapitel zur RNA-Prozessierung wird das alternative Spleißen vergessen, Viroide und Ribozyme sollten Erwähnung finden, man könnte sich eigene Kapitel zu Modellsystemen in der Genetik wünschen und sowohl die Systembiologie als auch die Bioinformatik werden in zukünftigen Auflagen sicherlich mehr Platz beanspruchen. Das Buch wird weiter reifen und hoffentlich die gute Balance zwischen thematischer Breite und erforderlichen Details erhalten können.

Mit der nächsten Ausgabe wird auch zumindest eine begleitende CD mit Lehrmaterialien erforderlich sein. Der Vorspann zum Urheberrecht wird allerdings Hochschullehrer nicht ermutigen, Abbildungen aus dem Graw zu verwenden. Sie werden eher auf die frei verfügbaren Grafiken aus englischen Konkurrenzprodukten zurückgreifen – und dies mit gutem Grund, denn der wesentliche Schwachpunkt des Graw liegt in der halbherzigen Illustrationsstrategie des Verlags. Das uneinheitliche Layout mit mindestens drei verschiedenen Grafiktypen und die übertriebene Sparsamkeit mit Farben mindert den Spaß beim Lesen des Buches beträchtlich und erschwert unnötig die visuelle Nachvollziehbarkeit des Textes.

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  • Quellen
BIOspektrum 3/2006

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