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Couchgeflüster

Inzest, Selbstzerstörung, Schuldgefühle – Autor Mathias Hirsch hat schon über einige Themen geschrieben, die mit Tabus belegt sind. Im Verheimlichen und Verschweigen sieht der Facharzt für Psychotherapie eine Gefahr: "Je weniger gesprochen wird, desto eher wird gehandelt und desto leichter bleibt ein Handeln verborgen". Aufbauend auf diesem Argument setzt sich der Psychoanalytiker in seinem neuen Buch mit therapeutischen Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch auseinander.

Sein zentrales Anliegen: zwischen erotischen Gefühlen und dem realen sexuellen Verhältnis zu unterscheiden. So sehen es auch die Berufsregeln für Psychotherapeuten vor – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wohl aber dem Handeln. Bereits Sigmund Freud forderte Abstinenz (in der Fachsprache: sich Triebansprüche zu versagen). Dass auf Seiten des Patienten häufig Liebesgefühle aufkommen, erschien ihm nicht ungewöhnlich. Sie könnten infolge therapeutischer Prozesse entstehen und gälten daher nicht den persönlichen Vorzügen des Therapeuten.

Die unterschiedlichen Positionen zu etwaigen Gefühlen seitens der Behandler schildert der Autor in einem umfassenden Literaturüberblick. Während einige Fachleute bereits jede erotische Fantasie verurteilen und dabei Gefühle, Fantasien und reale sexuelle Beziehungen gleichsetzen, sehen andere im Spannungsfeld zwischen Begehren und Entsagung sogar ein wichtiges therapeutisches Element. An konkreten Beispielen aus der Praxis beschreibt Hirsch, wie Therapeuten die Liebesgefühle ihrer Patienten konstruktiv nutzen könnten, indem sie ihre Bedeutung ergründen, anstatt sie zu verurteilen, zu ignorieren oder auf Beziehungsangebote einzugehen.

Dann widmet sich Hirsch dem Missbrauch der therapeutischen Machtposition sowie verschiedenen Formen des sexuellen Begehrens. Anhand von Fallbeispielen stellt er dar, welche erschreckenden Formen Missbrauch in der Psychotherapie annehmen kann. Eine gutachterliche Stellungnahme des Autors zeigt die Komplexität der Problematik: In einem Rechtsstreit geht es um eine Psychotherapeutin, die direkt nach Behandlungsende eine private Beziehung mit einem Patienten aufnahm. Die Gutachter sollten die Frage klären, ob die Therapeutin gegen die Regeln ihres Berufstands verstoßen habe.

Der letzte Abschnitt behandelt den Missbrauch in Familien und katholischen oder reformpädagogischen Institutionen. Es geht um "sexualisierte Machtausübung und Agieren narzisstischer Omnipotenzphantasien" und darum, mit welchen Mechanismen das Umfeld versucht, den "guten Ruf" ihrer Institution zu schützen und den Missbrauch auf Kosten der Opfer zu leugnen. Erst wenn "die Öffentlichkeit plötzlich in der Lage ist, hinzusehen, (…) sprechen und handeln kann, können Missbrauchssysteme aufgelöst werden", so der Autor.

Ergänzend zu vielen eindeutigen Fällen erhält der Leser auch einen Eindruck davon, auf welchen subtilen Wegen sich sexuelle Grenzverletzungen einschleichen können und wie schwierig sich im Einzelfall die Frage beantworten lässt, ab wann das Abstinenzgebot verletzt ist. Dürfen sich Patient und ein Therapeut zum Beispiel Briefe schreiben? Und ist jegliche private oder gar intime Mitteilung verboten?

Das Buch vermittelt eine detaillierte Übersicht zur Entstehung von Liebe und Machtmissbrauch in therapeutischen Beziehungen sowie dem gebotenen Umgang mit etwaigen Versuchungen. Es liefert eine gute Basis für die Selbsterfahrung angehender Therapeuten sowie zur aktuellen Diskussion um sexuellen Missbrauch in Kirchen und Schulen. Das vermittelte Wissen kann dem Behandler helfen, in Versuchungssituationen abstinent zu bleiben.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 3/2013

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