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Wer steckt hinter meinem Ich?

Was ist Sein und was ist Bewusstsein? Wer trifft in unserem Leben eigentlich unsere Entscheidungen? Was ist Wirklichkeit und was bilden wir uns ein? Der Autor David Eagleman nimmt in seinem Buch "Inkognito" den Leser mit auf eine Reise ins Unbewusste: ins Gehirn und die Tücken, die dieses Organ umgeben.

Sind wir beispielsweise ein Konstrukt unserer Umwelt, unserer Sinne, unserer Gedanken? Eagleman stellt fest, dass beispielsweise Gedanken nicht einfach nur Luft sind oder gar ein mächtiger Zauber. Auch sie basieren auf physischen Grundlagen, weil Gedanken Veränderungen hervorrufen: Sie hinterlassen Spuren, denen man folgen kann. Das lässt den Autor den Schluss ziehen, dass wir über die meisten unserer Handlungen und Empfindungen keine bewusste Kontrolle haben. Zu diesem Unterbewusstsein hat das Ich keinen Zutritt.

Hier stellt sich aber die Frage, woher wir das wissen können. Um dies zu beantworten, liefert der Autor in sieben Kapiteln auf 266 Seiten viele spannende und sehr unterschiedliche Ansätze. Eagleman war Schüler von Francis Crick und versteht es daher hervorragend wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft in schmackhafte, leserfreundliche Portionen zu verpacken.

Im ersten Kapitel zeigt er dem Leser, dass sein Gehirn eigentlich etwas Fremdes ist. Sobald sich etwas von den Gedanken eingeprägt hat, entzieht es sich unserer Kontrolle. Unser Handeln wird von dem Unterbewussten bestimmt und kontrolliert. Schon Freud erkannte, dass eine Vielfalt von menschlichen Verhaltensweisen nur über unsichtbare geistige Prozesse erklärbar war. Es mussten also verborgene Mechanismen hinter der Fassade existieren, zu denen das Bewusstsein keinen Zugang hatte. Ein Meilenstein in der Psychoanalyse.

Im zweiten Kapitel widmet sich Eagleman einem Phänomen, dem wir ständig ausgesetzt sind, über das wir uns aber keine weiteren Gedanken machen. Wir nehmen Sinnestäuschungen einfach hin. Um geistige Abgründe geht es im dritten Kapitel. Es beginnt mit einem Zitat von Augustinus (354-430 n. Chr.): "Ich fasse selbst nicht ganz, was ich bin". Zwischen dem, was das Gehirn weiß, und jenem, wozu der Geist Zugang hat, tut sich nach Eaglemans Meinung ein tiefer Abgrund auf. Der Autor beschreibt in Form eines kleinen Spiels, wie man sich das vorstellen kann. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und versuchen Sie in Gedanken mit geschlossenen Augen, einen einfachen Fahrspurwechsel vorzunehmen.

Vermutlich haben Sie genau das gemacht, was fast alle Probanden machen: Sie halten das Lenkrad erst gerade, dann lenken Sie es nach rechts und dann wieder gerade. Der Autor macht klar, dass Sie bei so einer Fahrweise im Graben gelandet wären. Sie glauben ihm nicht? Ich habe es versucht: in Gedanken und dann beim Fahren kontrolliert. Es stimmt wirklich, denn was Sie glauben, bewusst zu machen, führen Sie falsch aus. Ihr Unterbewusstes hat sich alles so eingeprägt, dass es sich dem Bewussten entzieht. Die meisten Aufgaben, vor allem wenn sie routiniert sind, laufen besser ab, wenn das Bewusstsein nicht mitwirkt. Man verliert also die Kontrolle.

Im fünften Kapitel wird uns klar vor Augen gehalten, dass wir aus vielen Einzelteilen und Untersystemen bestehen, die einem ständigen Wandel unterliegen und die alle ihr Spezialgebiet haben. Diese Dynamik führt dazu, dass wir in vielen Situationen unterschiedlich handeln oder denken und damit eigentlich nie dieselbe Person sind. Für mich tut sich damit eine ganz neue Erkenntnis auf: Ich kann mir jeden Tag aufs Neue die Frage stellen: Wer bin ich? Oder auch: Ist mein Mann wirklich mein Mann?

Das vorletzte Kapitel beschäftigt sich mit Schuld und Sühne. Eagleman zitiert hier unter anderem Wolf Singer, einen renommierten Neurowissenschaftler: "Selbst wenn wir nicht messen könnten, was mit dem Gehirn eines Kriminellen nicht stimme, könnten wir trotzdem mit Sicherheit davon ausgehen, dass irgendetwas nicht stimmt." Können wir mit diesem Satz alles erklären? Welche Auswirkungen hat es auf den Menschen, wenn sich das Gehirn verändert? Ist das so, dass sich jeder Verbrecher, jedes Verbrechen unserem Bewussten entzieht? Es ist eines der spannendsten Kapitel des insgesamt sehr lesenswerten Buchs.

Im letzten Kapitel hinterfragt der Autor, was denn jetzt noch vom Menschen eigentlich übrig bleibt. Das Motto: neues Gehirn, neuer Mensch. Welche Rolle spielen Gene, welche die Umwelt? Haben wir wirklich unser Bewusstsein entthront, wie Eagleman behauptet, bloß weil wir denken, unser Verhalten besser zu verstehen? Viele Fragen wurden mit dem Buch beantwortet, aber viele Fragen sind noch offen beziehungsweise entstehen sogar erst noch durch die Beantwortung anderer Fragen. Das Buch von David Eagleman hat einiges dazu beigetragen. Ein richtiger Krimi über das Ich, dem Gehirn und sein Eigenleben.

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