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Traurige Schicksale

Jährlich werden in Deutschland Zehntausende von Kindern misshandelt. Sie sind Opfer körperlicher und seelischer Gewalt, sexuellen Missbrauchs und schwerer Vernachlässigung. Die Dunkelziffer ist hoch: Schätzungsweise gelangen nur 10 bis 15 Prozent der Fälle zur Anzeige. Wenn schwere Kindesmisshandlungen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gelangen, fragen viele Menschen vorwurfsvoll, warum denn niemand etwas früher bemerkt hat. Vor allem Ärzte geraten in Verdacht, zu spät gehandelt zu haben. Denn zumeist hat Warten schlimme Folgen: Es kommt zu weiteren Misshandlungen, unter Umständen mit Todesfolge.

Hauptziel des Buches "Kindesmisshandlung: Medizinische Diagnostik, Intervention und rechtliche Grundlagen" von Bernd Herrman und seinen Kollegen ist es deshalb, Ärzte in die schwierige Problematik einzuführen. "In der Ausbildung der Ärzte in Deutschland kommt das Thema nach wie vor viel zu kurz", erklärt Herrmann. Die Mediziner lernten in der Regel nicht, wie sie Kindesmisshandlungen von Unfällen unterscheiden können. "Wir hoffen, dass wir allen Kollegen mit dem Buch eine Hilfestellung bei dieser wichtigen Aufgabe bieten können."

Herrmann ist Oberarzt der Kinderklinik im Klinikum Kassel und Leiter der Ärztlichen Kinderschutz-Ambulanz. Zusammen mit drei Kollegen aus der Rechtsmedizin und Sozialpädiatrie verfasste er das Buch mit seinen 350 Seiten. Es geht auf zahlreiche Fragen ein, die von Bedeutung sind: Wie soll der Arzt sich bei einem Verdacht verhalten? Welche Diagnosekriterien erhärten den Verdacht? Wie ist die rechtliche Situation? Wie kann der Arzt erfolgreich Einfluss nehmen und allen Beteiligten helfen, die schwierige Lage bestmöglich zu meistern?

Wie der Verlag kundtut, soll das Buch nicht nur Ärzte, sondern auch Juristen und Sozialarbeiter informieren sowie Erzieherinnen und Polizisten aufklären. Ob dies immer gelingt, ist jedoch fraglich. Zwar ist die Sprache des Buchs klar und sachlich, enthält jedoch zahlreiche medizinische Fachausdrücke. Daher sind Grundkenntnisse in der Medizin erforderlich. Mehrere Elemente helfen allerdings, das Gelesene zu behalten. In roter Farbe stehen wichtige Inhalte, die den Text zusammenfassen und die sich der Arzt für seine praktische Tätigkeit einprägen sollte. Viele Tabellen ergänzen den Text; Zeichnungen und Fotografien illustrieren klinische Befunde.

Ausgehend von einer kurzen historischen Einleitung, wendet sich das Buch den Problemen körperlicher Misshandlungen zu. Besondere Kapitel gelten dem Schütteltrauma, den schweren und schwersten Hirnverletzungen, den Knochenbrüchen und den Verletzungen im Brust- und Bauchraum. Die Autoren beschreiben die Kennzeichen fortlaufender chronischer Misshandlungen und das Münchhausen-Syndrom-by-Proxy, bei dem eine dem Kind nahestehende Person eine kindliche Erkrankung vortäuscht oder aktiv erzeugt – womöglich um selbst Aufmerksamkeit zu bekommen.

In den folgenden Kapiteln geht das Buch auf sexuellen Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und emotionale Misshandlung ein. Ein weiterer Themenschwerpunkt ist die forensische Beweismittelsicherung. Hierbei sind die Erfolgsaussichten am höchsten, wenn der Kinderarzt mit einem Rechtsmediziner zusammenarbeitet. Da aber Rechtsmediziner in vielen Regionen nicht vertreten sind, sollten auch dem Kinderarzt die Grundsätze der forensisch orientierten Befunderhebung und -sicherung bekannt sein. Da auch für Menschen, die sich im Kinderschutz engagieren, die rechtlichen Rahmenbedingungen oft wenig einleuchtend sind, vermitteln ausführliche und verständlich geschriebene Kapitel zu juristischen Aspekten, Strafrechtsnormen und Möglichkeiten des gesetzlichen Opferschutzes wichtige Informationen. Im letzten Kapitel geht es um Intervention und Prophylaxe. Der Arzt soll in der Lage sein, sein Wissen in die Tat umzusetzen. Im Anhang findet sich praktisches Arbeitsmaterial: Dokumentationsbögen, Befundvordrucke, Checklisten, Literatur und Internet-Links.

So sehr den Arzt das Geschehen auch aufrüttelt, muss er dennoch Ruhe bewahren und seine Gefühle unter Kontrolle halten, betonen die Autoren. Erhärtet sich bei einer gründlichen Befragung und Untersuchung der Verdacht auf eine Misshandlung, sollte der Arzt zunächst versuchen, in Kontakt mit den Eltern zu kommen und ein möglichst offenes Gespräch zu führen. Ziel ist es, gemeinsam zu entscheiden, wie die Hilfe von Beratungsstellen, Allgemeinen Sozialen Diensten oder Jugendamt in Anspruch genommen werden kann. Der Arzt muss Bescheid wissen über spezielle Einrichtungen zum Schutz des Kindes wie Kinderschutz-Zentren, Kinderschutzgruppen und Beratungsstellen.

Optimal ist es, wenn es gar nicht zum Äußersten kommt. Daher sollte der Arzt wissen, wie sich eine Kindesmisshandlung verhindern lässt. Oft lassen sich Stressfaktoren wie Zeitmangel, Armut oder beengte Wohnverhältnisse nicht beseitigen. Der Arzt kann den Eltern lediglich helfen, besser mit ihnen umzugehen. Bestimmte Gruppen – beispielsweise junge Mütter mit Gewalterfahrung – brauchen besondere Zuwendung. Und der Arzt sollte die Entwicklung eines Kindes, das einmal Opfer einer Misshandlung gewesen ist, im Auge behalten. Nur so kann er den richtigen Zeitpunkt herausbekommen, in dem das Kind erneut Hilfe benötigt.

"Kindesmisshandlung" ist ein verständlich geschriebenes und klar gegliedertes Buch zu einem angemessenen Preis. Es widmet sich einem Gebiet, dem in der Ausbildung von Ärzten zu wenig Beachtung geschenkt wird und in dem deshalb ein erhebliches Wissensdefizit besteht.

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