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Die Welt ist nicht simpel

Wir leben in einer komplexen Welt – und so müssen auch unsere Theorien über die Welt komplex sein: Was zunächst äußerst plakativ und simpel anmutet, gewinnt im Laufe des populär verfassten Sachbuchs "Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen" der Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell an Tiefe und Überzeugungskraft.

Mitchell beginnt ihre Analysen mit der Depression als psychischer Erkrankung. Diese erweist sich deshalb als komplex, weil es letztlich nicht nur eine einzige Erklärung für ihre Entstehung gibt. Depressionen lassen sich nicht alleine auf eine genetische Veranlagung zurückführen. Die Forschung müsse stattdessen Faktoren berücksichtigen, die auf den unterschiedlichsten Ebenen des menschlichen Organismus zu finden sind: nämlich genetische, neurologische, biochemische und soziale Aspekte.

Die Autorin tritt für einen neuen Ansatz ein, den sie als "integrativen Pluralismus" bezeichnet. Es geht darum, wissenschaftliche Erkenntnisse, die auf zahlreichen Analyseebenen gewonnen werden, zu vereinen. Wissenschaft könne nicht immer nach einer einzigen, einfachen und universell gültigen Erklärung im Sinne eines Newton`schen Weltbildes suchen.

Mitchell begründet ihren Ansatz, indem sie den Leser in ihrem größtenteils gut lesbaren Buch durch die faszinierende Welt komplexer Systeme führt. Vor allem biologische Systeme wie Honigbienenkolonien, die zudem auch noch sozial organisiert sind, haben es der Autorin angetan. Das Schwierige an komplexen Systemen ist: Sie verhalten sich zwar deterministisch, lassen sich aber nicht vorhersagen. Bereits kleine, nicht messbare Änderungen der Anfangsbedingungen können zu großen Änderungen der Ergebnisse führen. Außerdem sind komplexe Systeme auf unterschiedlichen Ebenen organisiert und ihre einzelnen Bestandteile stehen in kausaler Wechselbeziehung.

So schildert Mitchell wie in Honigbienenkolonien aus dem Verhalten der einzelnen Bienen eine Eigenschaft des Gesamtsystems entsteht: der Nektarvorrat im Stock. Diese Eigenschaft der höheren Ebene wirkt durch eine Rückkopplungsschleife kausal auf das Verhalten der individuellen Bienen zurück. Wie viel Nektar sich im Bienenstock befindet, beeinflusst über einen ausgeklügelten Mechanismus das Sammelverhalten der Bienen, die die gesamte Menge an vorrätigem Nektar selbst nicht kennen.

Im weiteren Verlauf ihres Buches zeigt Sandra Mitchell, dass es gerade in der Biologie auf Grund der Kontingenz und Vielfalt des evolutionär entstandenen Lebens keine universellen und notwendigen Naturgesetze gibt. Allerdings besitzen auch allgemeine biologische Aussagen, die Ausnahmen aufweisen – wie das Mendel'sche Segregationsgesetz –, unter exakt definierten Bedingungen die gleiche Erklärungs- und Voraussagekraft wie universelle Regeln.

Nun sind Sandra Mitchells Thesen und ihre Forderung nach einem Pluralismus der Erklärungsebenen nicht unbedingt neu. Allerdings wartet ihr eher kurzes Werk mit einer großen Vielfalt auf. Das Buch verbindet wissenschaftstheoretische Argumentationen mit anschaulichen Beschreibungen besonderer Formen von Komplexität. Ganz nebenbei erhält der Leser einen kleinen, aber interessanten Einblick in verschiedene natur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen – von der Physik über die Biologie bis hin zur Ökonomie: das Buch ist also selbst alles andere als eindimensional.

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