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Ein Ketzer in China

Um die Handlung des Buchs zu verstehen, muss der Leser den zeitgeschichtlichen Hintergrund in Europa in den Jahrzehnten um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert kennen: In den Nachwirkungen der Reformation droht das Abendland im Chaos zu versinken, die seit Jahrhunderten gültige Weltordnung – manifestiert in den Lehren der Kirche Roms – beginnt sich aufzulösen, die von Aristoteles überlieferte Beschreibung der Ordnung der Welt mit den Methoden der Logik und der Metaphysik – für die Kirche unantastbar – wird in Frage gestellt. Verstöße werden von der Heiligen Inquisition verfolgt und die Ketzer hart bestraft. Überall im Land brennen in dieser Zeit die Scheiterhaufen...

In Deutschland findet Johannes Kepler gute wissenschaftliche Gründe für die Gültigkeit des heliozentrischen Systems, welches das alte geozentrische (ptolemäische) Bild ablösen sollte. Gleichzeitig ergreift in Italien – zu dicht am Zentrum der Kirche – Galileo Galilei Partei für die revolutionären Gedanken und wird dafür als Ketzer gebrandmarkt.

In dieser turbulenten Zeit tritt Johannes Schreck, alias Jean Terrentius, der Protagonist dieser Geschichte, auf den Plan. Er ist Deutscher, 1576 in Bingen geboren und in Freiburg zum Magister ausgebildet. Von Mathematikstudien in Frankreich kommt er nach Rom, wo er auf Frederico Cesi trifft, den Stifter der Akademie der Linceianer. Von deren Vorstellungen beeindruckt wird er 1611 – wie schon zuvor Galilei – als Mitglied in die Akademie aufgenommen. Aber schon im November verlässt Schreck zur Bestürzung Galileis die Akademie, um sich den Jesuiten anzuschließen. Über die Hintergründe des Wechsels kann nur spekuliert werden:

Wahrscheinlich scheint, dass Schreck von der Sehnsucht getrieben wurde, die Wissenschaft einer fremden Welt kennenzulernen, deren Mathematik, Kartografie, Fauna, Flora und Heilkunst. So hoffte er unter anderem das chinesische Gegenstück zum "Thesaurus Mexicanus", einer Sammlung der Fauna und Flora Mittelamerikas, schaffen zu können, die er "Plinius Indicus" nannte. Und nur mit Hilfe der Jesuiten schien dieser Lebenstraum realisierbar.

Es war eine zu jener Zeit beschwerliche Reise, zu der Schreck mit einigen Patres seines Ordens auf einem portugiesischen Segler 1618 von Lissabon aus aufbrach. Sie erreichten Goa in Westindien zu der Zeit, als in Europa der 30-jährige Krieg ausbrach. Die Seereise endete 1619 in Macao, und die Reisenden setzten sie auf dem Landweg, mit Dschunken auf den großen Flüssen nach Hangzhou und schließlich bis zur Ankunft in Peking (1626) fort.

Längere Aufenthalte von Monaten bis fünf Jahren in Goa, Macao und Hangzhou ließen Schreck Zeit, seinen Neigungen nachzugehen, die Natur zu studieren und sich vor allem mit der chinesischen Sprache vertraut zu machen. Es entstanden auch einige Bücher, beispielsweise das Lehrbuch vom "Großen Messen" mit trigonometrischen Grundbegriffen oder der oben genannte "Plinius Indicus".

Ein "Brückenschlag der Kulturen", so ist der letzte Teil des Buchs überschrieben, war das eigentliche Anliegen des Deutschen. Er verstand sich weniger als Verkünder der Botschaft des Christentums, vielmehr als Wissenschaftler, als Überbringer abendländischer Erkenntnisse über die Welt. All dies sehr zum Missfallen der Missionsoberen.

Eine der wichtigsten Aufgaben der chinesischen Astronomen war seit alters her die Überwachung beziehungsweise Korrektur des Kalenders; aber genau dies war nicht mehr möglich, da die Grundlagen hoffnungslos überaltert waren. So kam es zu einer "Feuerprobe", einem Wettbewerb zwischen den Vertretern der drei astronomischen Schulen, der chinesischen, der arabischen und der europäischen, um die genaueste Vorhersage einer Sonnenfinsternis im Juni 1629 – der Himmel selbst sollte über die Qualität der verschiedenen Methoden entscheiden. Allein der Jesuit Schreck konnte den Eintritt der Finsternis exakt vorhersagen, worauf der Kaiser die Reform des Kalenders unter der Mitarbeit der Jesuiten verfügte. Schreck nahm die Aufgaben im Kalenderamt zügig in Angriff, obwohl Briefe an Kepler und Galilei um Mitteilung neuer Beobachtungsdaten unbeantwortet blieben. Noch während der Arbeiten an der Kalenderreform starb Schreck 54-jährig im Mai 1630.

Sein Tod durch Vergiftung gibt Rätsel auf: Waren Neider – chinesische Hofbeamte – am Giftmord beteiligt? Oder müssen Ordensbrüder der Mittäterschaft verdächtigt werden, weil sie die Verbreitung von ketzerischem Gedankengut am chinesischen Hof verhindern wollten? Oder war es gar ein Unglücksfall? Schrecks Ende wird wohl für immer im Dunkeln bleiben.

Kepler hat Schrecks Brief zwar ausführlich beantwortet, aber erst sechzehn Jahre nach dem Tode von Schreck und Kepler im Jahre 1630 erreichten die "Rudolphinischen Tafeln" die Jesuitenmission in Macao...

Zur zeitlichen Orientierung findet der Leser im Anhang eine Zeittafel der chinesischen Dynastien von 2100 vor Christus bis 1911; eine weitere Tafel listet die Kaiser der Ming-Dynastie auf, die von 1368 bis 1644 währte. Eine Liste der einschlägigen Literaturquellen und ein Register beschließen das Buch.

Der Autor breitet ein weitgehend unbekanntes Kapitel aus einer düsteren Epoche – nicht nur in Deutschland – vor dem Leser aus. Alle, die an der Auseinandersetzung zwischen den Exponenten der um Erkenntnis ringenden Naturforscher auf der einen, und den Vertretern der Kirche Roms, beziehungsweise den Jesuiten, auf der anderen Seite interessiert sind und dabei Einblick in Leben und Politik des damaligen China erhalten wollen, werden das Buch mit Gewinn und Freude lesen – es ist spannend, streckenweise sogar abenteuerlich und nie langatmig.

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  • Quellen
Sterne und Weltraum 7/2008

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