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Man lebt nur x-mal

Haben Sie schon einmal einen richtig großen Fehler gemacht? Etwas, von dem Sie wünschen, es wäre nie geschehen? Dann trösten Sie sich. In den Tiefen des Alls gibt es zahllose Doppelgänger von Ihnen, denen dieser Lapsus nicht passiert ist.

Mehr noch: Im Universum könnten unzählige Welten existieren, die unserer bis aufs Haar ähneln. Alles auf ihnen ist so, wie wir es von der Erde kennen – die gleichen Kontinente, die gleichen Kulturen, die gleichen Menschen. Es laufen dort Ebenbilder von uns herum, die genauso aussehen, fühlen und denken wie wir. Einige von ihnen haben die Liebe ihres Lebens gefunden, andere nicht. Einige haben die Schulprüfungen mit Bravur bestanden, andere sind mit Pauken und Trompeten durchgefallen.

Warum sollte das Universum so merkwürdig beschaffen sein? Der Physiker Alexander Vilenkin gibt eine kühne Antwort: weil alles, was möglich ist, auch wirklich passiert. Zu jeder denkbaren Geschichte, sei sie noch so verrückt, gibt es (mindestens) einen Ort im Universum, an dem sie sich tatsächlich zuträgt. Einzige Einschränkung: Die Geschichte muss im Einklang mit den Naturgesetzen stehen.

Nein, der Autor ist kein Spinner. Alexander Vilenkin gilt als bedeutender Kosmologe, forscht seit 30 Jahren als Professor für Physik an der Tufts University in Massachusetts und ist Direktor des Tufts Institute of Cosmology. Bekannt gemacht haben ihn seine Beiträge zur Urknalltheorie, insbesondere zum Konzept der inflationären Expansion, das in Forscherkreisen heute allgemein anerkannt ist. Er ist auch längst nicht der einzige Physiker, der solchen Ideen nachgeht. Viele Wissenschaftler erwägen die Möglichkeit, dass alles Realität wird, was die Natur nicht kategorisch verbietet. Bekannt geworden sind solche Vorstellungen unter dem Namen "Viele-Welten-Interpretation", "Multiversum" oder "Megaversum". Vilenkin erörtert, warum ein Viele-Welten- Szenario vorstellbar ist und wie es funktionieren könnte.

In seinem Buch umreißt er zunächst die Geschichte der Kosmologie, von Einsteins Relativitätstheorie über Minkowkis Raumzeit, Friedmanns Universen und Gamows Urknall- Modell, von der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung über die Idee der kosmischen Inflation bis hin zum Nachweis Dunkler Materie und Dunkler Energie.

Davon ausgehend widmet sich der Autor dann hochinteressanten Fragen: Warum hat es den Urknall gegeben, und wie ist er verlaufen? Welche großräumige Struktur hat das Universum? Warum haben die Naturkonstanten die von uns gemessenen Werte? Gibt es Bereiche im Kosmos, in denen die Naturkonstanten andere Werte haben als in unserer lokalen Umgebung? Welche Stellung nehmen wir im Universum ein? Ist es vorstellbar, dass es eine Weltformel gibt – und was dürfen wir von ihr erwarten?

Vilenkins Erörterungen hierzu sind erhellend und überaus interessant. Es gelingt ihm, wichtige Aspekte der Kosmologie wie das Flachheitsproblem, das Problem der kosmologischen Konstante oder das anthropische Prinzip auf hohem Niveau und gleichzeitig verständlich zu behandeln. Zu seiner eingangs erwähnten Schlussfolgerung, dass jeder von uns zahllose Doppelgänger hat, kommt er auf logischem und nachvollziehbarem Weg – allerdings nicht zwangsläufig: Kosmologen können naturgemäß nicht ausschließlich empirisch arbeiten, sondern sind ein Stück weit auf Vermutungen angewiesen. Diese Vermutungen müssen allerdings sinnvoll und begründet sein, was hier der Fall ist.

Meiner Meinung nach ist "Kosmische Doppelgänger" eines der besten populärwissenschaftlichen Bücher zur Kosmologie überhaupt. Es ist fachkundig und gut geschrieben, strukturiert und übersichtlich, unterhaltsam, verständlich und informativ. Es behandelt die großen Fragen zum Kosmos auf eine Weise, die jeder interessierte Laie nachvollziehen kann.

Leider ist das Werk äußerst spartanisch bebildert – mit minimalistischen Strichzeichnungen, die manchmal geradezu kindisch wirken, und Schwarz-Weiß-Fotos, die kaum größer als eine Briefmarke sind. Aber das macht nichts, würde Vilenkin sagen: Irgendwo da draußen gibt es eine Doppelgänger-Erde und darauf eine Doppelgänger-Ausgabe des Buchs, die mit fantastischen Bildern aufwartet.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2008

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