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Buchkritik zu »Lehrbuch der Genetik«

Da ist er – die 2. Auflage des "Seyffert": Lehrbuch der Genetik. Überarbeitet, aktualisiert – und erweitert. Begnügte sich die 1. Auflage von 1998 noch mit 1089 Seiten, so ist das neue Werk auf insgesamt 1230 Seiten angewachsen. Die 7 großen Abteilungen (Molekulare Grundlagen, Cytologische und genetische Grundlagen; Mutationen; Entwicklung und Differenzierung; Struktur und Funktion; Charakteristische Organismen; Methoden der Molekulargenetik) sind in insgesamt 53 Kapitel unterteilt, die von 26 Einzelautoren verfasst wurden. Damit wird ein absolut aktueller Überblick über das Gesamtgebiet der modernen Genetik vermittelt. Ein Blick in die Literaturverzeichnisse zeigt, dass in einzelnen Kapiteln neuere Arbeiten bis 2002 berücksichtigt und eingearbeitet wurden. Gegenüber der alten Auflage wurden insbesondere molekulare Aspekte der Kartierung, entwicklungsgenetische Modellsysteme und bioinformatische Aspekte neu aufgenommen.

Dabei ergeben sich manchmal natürlich auch Dopplungen: so gibt es jetzt ein neues Kapitel über die genetische Analyse der Pflanzenentwicklung an der aktuellen Lieblingspflanze der Genetiker, der Ackerschmalwand Arabidospsis thaliana. Ähnliche Aspekte werden aber auch in der neuen Abteilung "Charakteristische Organismen" diskutiert; dabei werden (trotz entsprechender Querverweise) viele Informationen in ähnlicher Form zweimal angesprochen (im Detail z.B. Abb. 27.1 und Abb. 37.3 über die Embryonalentwicklung von A. thaliana). Entsprechendes findet sich für Drosophila (Kap.26 bzw. 39) sowie C. elegans (Kap. 26 bzw. 38).

Der gewachsene Stellenwert der Verhaltensgenetik zeigt sich darin, dass diese Thematik jetzt aus dem Kapitel über Neurogenetik herausgenommen und eigenständig dargestellt wird. An einzelnen Beispielen (Brutpflege, endogene Rhythmik und Lernen) wird deutlich, welchen Einfluss einzelne Gene auf das Verhaltensrepertoire haben können. Die Autoren versäumen aber auch nicht, am Beispiel der molekularen Analyse des Serotonin-Transporter-Gens (und dessen Einflusses von Polymorphismen in seinem Promotor auf "Ängstlichkeit") darauf hinzuweisen, dass es oft recht komplexe Prozesse sind, die Verhalten beeinflussen.

Jedes Lehrbuch – auch der Seyffert – muss aus der Fülle des vorhandenen Materials auswählen und seine eigenen Schwerpunkte setzen. Besonders bei einem Fachgebiet, das sich so rasend entwickelt wie die moderne Genetik, kommen daher auch immer die persönlichen Schwerpunkte des Herausgebers und seines Autorenteams zum Ausdruck. Bei dem Umfang dieses Buches ist es natürlich an vielen Stellen möglich, verschiedenen Aspekte nicht nur überzeugend in der Breite darzustellen, sondern auch in die Details zu gehen. So enthalten Kapitel über Mendels Regeln (Kap.13) und über die Genetik quantitativer Merkmale (Kap.18) einige sehr detaillierte Hinweise über mögliche und heute notwendigen Erweiterungen der Mendel'schen Regeln. Es werden darüber hinaus aber auch mathematische Ableitungen und Berechnungsformeln für kompliziertere Erbgänge quantitativer Merkmale angegeben. In diesem Kapitel wird natürlich auch die Handschrift des Herausgebers, eines erfahrenen Genetik-Lehrers mit seinem breiten Hintergrund- und historischen Wissen deutlich, wenn er nicht nur die modernen Kartierungsmethoden mit Mikrosatelliten-Markern bei der Tomate (Areshchenkowa et al., 2002) diskutiert, sondern auch an die Ursprünge ein Jahrhundert früher erinnert (z.B. Johannsen: Über Erblichkeit in Populationen und reinen Linien, 1903). Dieses Kapitel lebt auch davon, dass einige Gedanken außerhalb des "roten Fadens" durch eine besondere Gestaltung herausgehoben sind. Lehrbücher vergleichbarer Thematik verwenden dafür Eulen und Blüten (Hennig: Genetik) oder mit "Plus" gekennzeichnete Abschnitte (Knippers: Molekulare Genetik); im "Seyffert" gibt es dafür an manchen Stellen "Boxen". Leider ist dies nicht in allen Kapiteln konsequent durchgehalten.

Allerdings können auch einige Schwachstellen des Buches nicht unerwähnt bleiben, die sich natürlich aus der persönlichen Schwerpunkten der Autoren einerseits und der ebenso persönlichen Sichtweise des Rezensenten auf der anderen Seite erklären. So fehlen im Kapitel über Mutagenitätsprüfungen leider Hinweise auf die modernen Techniken mit transgenen Mäuse (Stichworte "BigBlue-Mouse" bzw. "MutaMouse"). Auch das Stichwort "Epigenetik" kommt etwas zu kurz – hatte doch die Gesellschaft für Genetik im Jahr 2003 diese Thematik sogar zum Schwerpunkt ihrer Jahrestagung gemacht. Statt des "Histoncodes", den man vergeblich sucht; gibt es aber "-ome" in allen Variationen über "Chondrom" und "Plastom" zum "Transkriptom".

Das Buch ist in bewährter Weise reichlich bebildert – in der Regel schwarz-weiß-blau; einige Abbildungen werden zum besseren Verständnis am Ende des Buches zusammenfassend farbig wiederholt. Diese drucktechnische bedingte kostensparende Methode der Zusammenfassung farbiger Abbildungen verblüfft allerdings bei der sonst sehr gediegenen und gebundenen Ausstattung des Buches.

Dennoch: bei aller Kritik an einzelnen Details ist dies ein hervorragendes Buch des aktuellen Standes der Genetik in ihren klassischen und molekularen Ausprägungen, das eine Vielzahl von Detailinformationen auch für den schon "fertigen" Genetiker zum Nachschlagen bereithält; ein "Muss", das auf keinem genetischen Schreibtisch und in keinem genetischen Labor fehlen sollte. Ob es als Lehrbuch und vor allem auch zum Lernen von den Studenten angenommen wird, wird sich zeigen – der Preis von 79,95 Euro ist für das Buch an sich absolut angemessen; für ein Lehrbuch und das studentische Budget befindet man sich damit aber eher am oberen Ende des Segmentes.

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  • Quellen
BIOspektrum 6/2003

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