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Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens

Nachdem am 26. April 2002 ein Erfurter Schüler 16 Menschen und dann sich selbst erschossen hatte, wurde viel darüber diskutiert, ob der übermäßige Konsum gewalttätiger Videospiele die Tat mit angeregt haben könnte. Die Befragten waren meist Vertreter der betroffenen Interessenverbände, Wissenschaftler waren selten darunter. Dabei zeigen Untersuchungen schon seit Jahrzehnten eindeutig, dass es Menschen, und vor allem Heranwachsende, gewalttätiger macht, wenn sie viel Gewalt im Fernsehen beobachten, und dass dieser Zusammenhang noch stärker für Videospiele gilt.

Lernen ist eine – vielleicht die wichtigste – Leistung des Gehirns. Seine Gesetzmäßigkeiten sind mit naturwissenschaftlichen Methoden ergründbar, und das längst nicht mehr nur bei Ratten, sondern, mit bildgebenden Verfahren, epidemiologischen Studien und Feldversuchen, auch unmittelbar am Menschen. Die Ergebnisse dieser Forschung kann man in der Pädagogik anwenden – und sollte es auch. Diese Verbindung von Neurobiologie und Schule, seit einigen Jahren als "Neurodidaktik" im Gespräch, ist das Hauptanliegen von Manfred Spitzer in diesem Buch.

Natürlich arbeiten Lehrer mit Menschen, nicht mit Gehirnen, und die erforderliche Menschenkenntnis kommt nicht von einer Fortbildung in Neurobiologie. Aber die Kenntnis des Gehirns kann uns recht gute Anhaltspunkte dafür geben, was in der Ausbildung und Bildung junger Menschen in Deutschland falsch läuft und wie man es besser machen könnte – die Pisa-Studie und jüngere Untersuchungen mit ähnlichen Ergebnissen haben uns die Defizite drastisch vor Augen geführt. Wenn man sich etwa klar macht, dass das Gehirn ununterbrochen lernt und nicht etwa beim Erschallen der Schulklingel am Mittag damit aufhört, wird man der außerschulischen Umwelt mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn man versteht, wie Motivation funktioniert, wird man sich als Lehrer damit mehr Mühe geben. Wenn man weiß, dass Werte sich nicht durch Predigten, sondern durch Handeln im Nervensystem verfestigen, wird man Jugendlichen mehr Gelegenheit zu Interaktion und verantwortlichem Tun geben. Und so weiter.

Spitzer stellt diese Zusammenhänge sehr systematisch dar. Zu Anfang beschreibt er das Lernen auf der Ebene von Synapsen, Neuronen und kortikalen Arealen, doch stets mit Blick auf das Gesamte. Dann erklärt er, wie Aufmerksamkeit, Gefühle und Motivation das Lernen beeinflussen, verfolgt die Lernfähigkeit anschließend durch ihre Reifung über die Lebensalter hinweg, ehe er, auf allem Vorherigen aufbauend, Aussagen wagt über die Entwicklung von Sozialverhalten und moralischen Werten. Spitzer greift dafür auf eine große Zahl meist ganz junger Veröffentlichungen zurück, nicht nur aus den Neurowissenschaften, sondern auch aus Psychologie, Soziologie, Ethnologie und Wirtschaftswissenschaften.

Wenn Naturwissenschaftler sich auf geisteswissenschaftliches Terrain vorwagen, kommt es allzu oft aus Unverstand zu einer arroganten Landnahme mit plump biologistischen Übergriffen. Vor diesem Fehler wird Spitzer, der heute Professor für Psychiatrie in Ulm ist, durch seine Ausbildung bewahrt, denn neben einer Promotion in Medizin und einem Diplom in Psychologie verfügt er auch über einen zweiten Doktor in Philosophie. Überdies hat er fünf Kinder, was für das Thema Erziehung wahrscheinlich die beste Qualifikation ist. Spitzer weiß also, worüber er sich äußert. Er kennt die besonderen Probleme der verschiedenen Fächer und vermag ihre Darstellung fließend miteinander zu verknüpfen, ohne dass man je den Eindruck hat, er stehe auf wackligem Grund.

Wie man etwas beibringt, weiß Spitzer zudem nicht nur in der Theorie: Er kann es selbst ganz vorzüglich. Sein Stil ist klar, erklärend, bild- und beispielreich, oft geistreich. Er nimmt seinen Leser ernst und fordert ihn, ohne ihn zu überfordern. Bisweilen erläutert er methodische Fragen, wo es interessant ist, und gibt seiner Freude über raffinierte Versuchsaufbauten Ausdruck. Wissenschaft ist bei ihm spannend. Während viele Bücher über das Gehirn vor allem Verblüffung über die vielen tollen Dinge vermitteln, die Neuroforscher heute können und wissen, erklärt Spitzer immer auch die Bedeutung der Ergebnisse. Kontroversen innerhalb der Wissenschaft verheimlicht er nicht, sondern bezieht selbst klar und gut begründet Stellung. Es ist ein ungemein kluges und vernünftiges Buch.

Bei all dem Lob sei ein Makel nicht verschwiegen: Das Buch wurde in großer Eile veröffentlicht – immerhin werden die gerade erst veröffentlichte Shell-Studie 2002 und das Elbehochwasser erwähnt. Da hat die editorische Sorgfalt gelitten. Schätzungsweise ein Drittel der Arbeiten, die im Text zitiert werden, fehlt im Literaturverzeichnis. Die Entdeckung von Mitosen im Gehirn erwachsener Nagetiere wird der Arbeitsgruppe Kempermann 1997 zugeschrieben – es waren Joseph Altman und Gopal im Jahr 1965. Diese Zellteilungen finden auch nicht nur bei Tieren in reizreicher Umwelt statt, und die in diesem Zusammenhang zitierte Autorin heißt Gould, nicht Gold.

Dabei hat es das Buch gar nicht nötig, um Aktualität zu buhlen. Was es über das Lernen aussagt, über die Erziehung, die Bildung von Werten, die Mängel unseres Erziehungssystems, wird noch lange gültig bleiben. Gerade unter Eltern, Erziehern, Lehrern und Schulpolitikern sind ihm viele Leser zu wünschen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 02/2003

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