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Buchkritik zu »Lexikon Musikautomaten«

Hätten Sie gedacht, dass "Multimedia" keine Erfindung unseres Jahrhunderts ist? Schon 1879 erhielt Theodor Brand aus Tübingen ein Patent für sein sprechendes Bilderbuch. Luftbälge im Buch, die über Schnüre betätigt wurden, brachten Metallzungen zum Schwingen, die wiederum Tierlaute erzeugten, aber auch das kindliche "Papa" und "Mama".Von der Musikwissenschaft kaum beachtet, existieren solche Automaten schon seit Jahrhunderten, anfangs mechanisch betätigt, heute elektrisch. Auch ihre Steuerung zeigte stets den aktuellen Stand der Technik: Stiftwalzen, Notenrollen, Magnetbänder, Computer. Bernd Enders, Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück, und Christoph Reuter, promovierter Musikwissenschaftler und freier Mitarbeiter des Schott-Verlages, stellen dieses wenig bekannte Genre vor. Mit sehr viel Engagement präsentieren sie Geschichte und Gegenwart in Kooperation mit zwei ausgewiesenen Experten: dem Privatsammler Rolf Jacobi und dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Selbstspielende Instrumente, Jürgen Hocker.Die Kapitel "Definitionen", "Musikinstrumente", "Androiden", "Antrieb und Steuerung", "Komponisten" und "Theoretiker" bilden ein gutes Raster, das Phänomen von vielen Seiten zu beleuchten. Die Grenze zwischen selbstspielenden und anderen Instrumenten ist fließend. Waren die windbewegten Aeolsharfen die ersten selbstspielenden Instrumente, oder ist eine vorgegebene Steuerung erforderlich, etwa durch Stiftwalzen wie bei der Spieluhr?Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts besannen sich die Amerikaner Henry K. Sandell und Herbert Stephen Mills der mittel-alterlichen Drehleier, bei der ein rotierendes Rad die Saiten zum Schwingen bringt. Das erledigte bei ihrer Automaten-Geige ein Elektromotor, das Abgreifen der Saiten übernahmen Elektromagnete, die über eine Notenrolle angesteuert wurden. Insgesamt erblühte dieses Instrumentengenre im 19. sowie im beginnenden 20. Jahrhundert; dabei entstand eine Industrie, die Spieluhren, Orchestrions – pneumatisch betriebene "Musikkapellen" – und anderes auf den Markt brachte, dazu das Verlagswesen für meist anderweitig bekannte Werke auf Notenrollen.Auch die zeitgenössische Musik machte sich die Maschine zu Nutze, so der Komponist Conlon Nancarrow, dem ein menschlicher Pianist nicht reichte, seine Vorstellungen an Tempi und Rhythmen umzusetzen. Die jüngsten Entwicklungen, die allerdings im Rahmen dieser CD-ROM nur gestreift werden, betreffen die Ansteuerung elektronischer oder digitaler Klangerzeuger durch MIDI-Computerbefehle.Das Kompendium verdankt seinen Charme letztlich auch einer gewissen Hausbackenheit. Die Navigation ist einfach und funktional, doch die Buttons entstanden vermutlich mit einem PC-Zeichenprogramm. Der Navigation dient auch eine Leiste, die völlig aus der Seitengestaltung herausfällt: Sie zeigt die Titel des aktuellen und der übergeordneten Fenster in eckiger Schrift auf weißem Grund. Bernd Enders selbst hat die Videokamera bedient, um einige noch intakte Automaten in Funktion zu zeigen; ein Profi-Filmer ist er nicht. Als echtes Manko erlebte ich aber nur das Fehlen jeder Druckfunktion; auch ein Kopieren des Textes in die Windows-Zwischenablage ist nicht möglich.Eine Frage hätte ich gern behandelt gefunden: Welcher Reiz liegt darin, eine wohl ureigene Errungenschaft des Menschen, die Musik, auf Maschinen abzubilden? Die Autoren geben keine Antwort. Aber vergnüglich ist diese CD trotzdem.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/00

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