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So baut sich der Geist den Körper

Der Versuch eines ganzheitlichen Ansatzes in der Medizin ist so alt wie das menschliche Denken. Bereits in Platons Dialog "Charmides" heißt es, man müsse ein Augenleiden vom Kopf her behandeln, den Kopf aber vom ganzen Körper aus. Der ganze Körper wiederum könne nur von der Seele aus geheilt werden. Für die moderne Auffassung der Psychosomatik ist es allerdings nicht nötig, die wissenschaftlich nur schlecht fassbare Instanz "Seele" als Verursacher körperlicher Krankheiten zu bemühen. Es genügt, auf ihren materiellen Träger zurückzugreifen: das Gehirn. Johann Caspar Rüegg, emeritierter Physiologieprofessor und selbst Fachmann auf dem Gebiet der neurobiologisch fundierten Psychosomatik, will mit dem vorliegenden Buch das neue Verständnis dieser medizinischen Teildisziplin darstellen, mit dem Ziel, "die Kluft zwischen einer rein somatisch orientierten Medizin und einem ganzheitlichen, psychosomatischen Krankheitsverständnis" zu überbrücken.

Diesem Anspruch versucht er in zehn Essays gerecht zu werden; jeder ist eigenständig und mit einer umfangreichen Literaturliste versehen. Der erste beschreibt knapp den Aufbau des Gehirns; die folgenden zeigen, wie mentale Prozesse und frühkindliche Erfahrungen auf die Gesundheit sowie auf die neuronale Struktur des Gehirns wirken, wie Schmerz sich mental beeinflussen lässt und wie emotionaler Stress auf den Körper wirkt, insbesondere auf das Herz.

Das Thema, das sich wie ein roter Faden durch fast alle Kapitel zieht, ist die Veränderung des Gehirns durch den Geist. An unterschiedlichen Beispielen zeigt Rüegg, dass "die Aktivität eines bestimmten Hirnteils das bewusste Erleben und die Befindlichkeit beeinflussen, … aber auch … das Bewusstsein wiederum auf die Aktivität einer Hirnregion zurückwirken" kann. Damit erweist er sich eindeutig als Gegner einer epiphänomenalistischen Sichtweise, die den Geist lediglich als Nebenprodukt neurophysiologischer Prozesse deutet, ihm umgekehrt aber jede kausale Wirkung abspricht.

Eng verbunden mit dem Problem der Einwirkung des Geistes auf den Körper – dem "Leib-Seele-Problem" – ist die Frage der menschlichen Freiheit. Im Essay "Emotion und Bewegung" greift der Autor ein berühmtes Experiment auf, das häufig als Widerlegung der menschlichen Willensfreiheit gedeutet wird. Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet hatte Anfang der 1980er Jahre gezeigt, dass ein Willensakt erst mehrere Zehntelsekunden nach der Entstehung eines spezifischen Bereitschaftspotenzials überhaupt bewusst wird. Rüegg macht allerdings darauf aufmerksam – und bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse der Münchener Psychologen Patrick Haggard und Martin Eimer –, dass das Bereitschaftspotenzial "gar nicht die Ursache für das Bewusstwerden einer Entscheidung sein kann". Das sei vielmehr wahrscheinlich ein anderes Hirnpotenzial, "das mit der bewussten Wahrnehmung der Absicht beinahe koinzidiere" und als lateralisiertes Bereitschaftspotenzial bezeichnet wird.

Darüber hinaus zitiert der Autor Untersuchungen des britischen Hirnforschers Hawkan Lau: Wenn die Versuchsteilnehmer ihre Aufmerksamkeit auf den Moment der Intention richten – also den Zeitpunkt, in dem sie den Impuls verspüren, einen Finger zu krümmen – und nicht auf die Auslösung der Bewegung, dann verstärkt sich die Gehirnaktivität im "präsupplementärmotorischen Kortex (Pre-SMA)". Es gebe also eine zerebrale Repräsentation einer Intention, mit der Folge, "dass die Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Intention einer Handlung auch deren bewusste (willentliche) Kontrolle ermöglichen" könne.
Somit hätte der Mensch seine verloren geglaubte Freiheit wieder zurückerlangt: "Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der aktuellen Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung ist kaum anzunehmen, dass das für die ethischen Belange der Menschheit so wichtige Konzept des 'freien Willens' bald aufgegeben wird."

Besonders interessant sind die Erklärungen, wie psychotherapeutische – im Speziellen verhaltenstherapeutische – Verfahren bei psychosomatischen Erkrankungen wirken. Es hat sich gezeigt, so der Autor, dass es im Verlauf einer Therapie zur Lockerung ("Labilisierung") synaptischer Verknüpfungen kommt und deren erneute Verfestigung durch die betreffende Therapie gehemmt wird. So können negative, oder auch traumatische Erinnerungen teilweise "gelöscht" werden: "Eine Psychotherapie wirkt auch auf biologische Weise, und zwar im Prinzip fast genauso wie antidepressive Medikamente, nämlich durch eine nachhaltige Veränderung des Gehirns." Dabei geht Rüegg davon aus, dass sich Ängste und Traumata als physiologische Spur (Engramm) ins emotionale Gedächtnis eingraviert haben und somit auch auf dieser Ebene beeinflussbar sind.

Alles in allem versucht der Autor in diesem Buch die kartesische Trennung von Körper und Geist zu überwinden. Der Mensch stelle eine psychophysische Einheit dar, da jede geistige Aktivität mit neurophysiologischen Prozessen korreliert und der Geist in der Lage ist, Einfluss auf das körperliche Empfinden zu nehmen: "Ich postuliere deshalb, dass unsere synaptischen Strukturen nicht nur durch das gesprochene Wort, sondern auch durch verbales Denken verändert werden."
Am Schluss des Buchs zitiert der Autor zustimmend den Schweizer Allgemeinarzt Rudolf Schuppli mit den Worten: "Das Geheimnis echter ärztlicher Leistung sei die Fähigkeit, Hoffnung zu machen, auch wenn das Vermögen der Medizin als Wissenschaft beschränkt sei." Und wenn der Autor weiter schreibt "Der Arzt als Arznei ist Realität, Worte können nachweislich wie Medikamente wirken", dann ist das natürlich eine Aufforderung, dem gesprochenen Wort sowie dem Arzt als Person wieder mehr Platz einzuräumen. Angesichts immer knapperer Kassen und einer zum Teil hoffnungslosen personellen Unterbesetzung in vielen Klinken wird dieser Ruf wohl ungehört in den Weiten des alltäglichen ärztlichen Betriebs verhallen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2011

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