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Blick fürs Detail

Der in Körper und Seele geteilte Mensch ist Vergangenheit! Gene, Psyche und Umwelt bestimmen, wer wir sind. Dass dieses Menschenbild allerdings nicht gerade neu ist, ignoriert der französische Neuropsychiater und Psychoanalytiker Boris Cyrulnik in seinem jüngsten Werk: Auf knapp 300 Seiten beschreibt er, wie "die Umwelt das Gehirn knetet und einem Organ Gestalt verleiht, das ohne die Umwelt nur eine formlose, unvernetzte Masse bliebe".

Anhand vieler Beispiele aus Alltag und Therapie führt Cyrulnik dem Leser vor Augen, wie eng neurologische und psychische Vorgänge miteinander verzahnt sind und wie sie unsere Fähigkeit zum Glücklichsein beeinflussen. So führt die Wiedervereinigung eines Kindes mit seiner Mutter beispielsweise zur Ausschüttung von Glücksbotenstoffen in dessen Gehirn. Eine überfürsorgliche Mutter jedoch, die ihren Schützling kaum je allein lässt, verhindert ein solches Vergnügen am Wiedersehen. Das Wechselbad der Gefühle ist es, das uns laut Cyrulnik Glück oder Unglück empfinden lässt.

Der Autor seziert geradezu das Zusammenspiel von Neuronen und Verhalten oder Genen und Umwelt. Ein Detailreichtum, der dem Buch einerseits zugutekommt, indem er ihm den notwendigen Tiefgang verleiht, andererseits jedoch sein größtes Manko darstellt. Der Neuropsychiater verliert in seiner Liebe zum Detail nämlich den roten Faden ein wenig aus den Augen. Abgesehen von der Leib-Seele-Thematik bleibt unklar, worauf er eigentlich hinauswill. Die im Untertitel versprochene Erklärung dafür, wie wir Krisen bewältigen, klingt allenfalls gelegentlich in Beispielen an; ein Fazit zieht der Autor nicht. In fünf Kapiteln behandelt er den Ursprung menschlichen Glücks, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, das Unterbewusstsein in Psychoanalyse und Kognitionsforschung sowie unseren Umgang mit dem Altern. Dabei kommt er immer wieder zu demselben Schluss: Leib und Seele beeinflussen einander und bestimmen unser Handeln in gleichem Maß!

Im Dunkeln lässt uns Cyrulnik außerdem darüber, was Empirie und was Theorie ist. So bleibt unklar, ob es tatsächlich Studien gibt, die belegen, dass die Gehirne von Kindern überfürsorglicher Mütter weniger Glücksbotenstoffe ausschütten, oder ob der Autor diese Aussage theoretisch hergeleitet hat. Auch auf sprachlicher Ebene herrscht ein Durcheinander von literarischen Ergüssen und Fachjargon. Wem Begriffe wie "Oxytozin" oder "periaquäduktales Grau" nichts sagen, der ist aufgeschmissen. Ebenso ergeht es dem, der mit den "Empfindsamkeiten des Gefühlslebens" nichts anzufangen weiß.

Verloren im Dschungel

Mit dem Klappentext – "Wenn Sie glücklich sein wollen, dürfen Sie nicht um jeden Preis dem Unglück ausweichen" – appelliert der Verlag an ein breites Publikum. Nun lässt die Hoffnung auf eine Art Lebensratgeber, der mit Beispielen aus der Hirnforschung angereichert ist, sicherlich manches Herz höherschlagen. Aber um sich in Cyrulniks Dschungel aus Theorie und Empirie, Fachwörtern und literarischen Passagen zurechtzufinden, braucht es eine gehörige Portion fachliches Vorwissen. Vieles, was der Autor zu Papier bringt, lässt einen klugen Kopf vermuten.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 3/2008

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