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Biologisches Flickwerk

Falls Sie zu jenen Menschen gehören, die einen Teil ihres Lebens in Sitzungen verbringen, schweifen Ihre Gedanken dabei vielleicht des Öfteren vom Thema ab. Nach einer britischen Studie fantasiert jeder dritte Mann während eines Meetings ein sexuelles Erlebnis herbei. Solche Unaufmerksamkeiten führen nach Schätzungen von Volkswirten allein in Großbritannien jährlich zu einem Schaden von knapp acht Milliarden Pfund.

Offensichtlich sind wir selbst dann nicht immer bei der Sache, wenn wir uns das gar nicht leisten können. Das ist keine persönliche Charakterschwäche, sondern liegt in der Natur des Menschen. Meist sind es menschliche Triebe und Bedürfnisse, die die Konzentration oder zielgerichtetes Denken stören. Zu diesem Thema hat Gary Marcus, Psychologe an der New York University, sein drittes Buch geschrieben – erfrischend und respektlos. Sein Befund: Das menschliche Gehirn ist ein Flickwerk verschiedener Systeme, so planlos im Lauf der Evolution zusammengeschustert, dass wir uns wundern sollten, wenn dabei manchmal noch etwas Gescheites herauskommt.

Der Franzose François Jacob, der für sein Modell von der Regulation der Genaktivität den Nobelpreis erhielt, nannte das Phänomen bricolage – Bastelarbeit. Da der Mensch ein Spätzünder in der Stammesentwicklung ist, hat er laut Marcus kein eigens für ihn maßgeschneidertes Denkorgan bekommen. Stattdessen wurden in das Säugetiergehirn mal hier, mal dort ein paar zusätzliche Funktionen hineingebastelt – ohne Garantie, dass das alles ordentlich zueinanderpasst. Und so meldet sich immer dann, wenn wir uns eigentlich rational verhalten wollen, das Stammhirn zu Wort und stört das Frontalhirn bei der Arbeit.

Wer wegen des Untertitels die üblichen langatmigen Kapitel über den Aufbau des Gehirns, neuronale Schaltkreise und den freien Willen erwartet, liegt falsch. Auch professorale Geschwätzigkeit erspart der Autor seinen Lesern: Er schreibt flott und kommt ohne anbiedernde Komik oder bemühte Witzchen aus. Gelegentlich fehlen allerdings weiter reichende Analysen, etwa wenn Marcus die Störanfälligkeit des Gehirns anhand von Versprechern belegen will und dabei das psychoanalytische Konzept der freudschen Fehlleistungen nicht einmal erwähnt.

Das Buch lebt von vielen alltagsnahen Beispielen und verblüffenden Befunden. Der Psychologe berichtet unter anderem, dass Studenten, die einen Text über Senioren gelesen hatten, danach langsamer über die Gänge liefen. Und er erzählt, wie ein Unterwasserexperiment demonstrierte, dass man Informationen am besten dort lernt, wo man sie später auch wieder abrufen möchte.

Offensichtlich sind Menschen leicht zu manipulieren und entscheiden oft irrational. Trotzdem will Marcus Hoffnung machen: Im letzten Kapitel stellt er 13 alltagstaugliche Gegenmaßnahmen zusammen. Falls diese nicht helfen sollten und Ihre Gedanken während der nächsten Sitzung wieder abschweifen, dann wissen Sie zumindest, wer schuld ist: das von der Evolution planlos zusammengeschusterte Gehirn.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 1/2010

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