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Ein Ritt über den Bodensee

Kaum eine Leistung des menschlichen Geistes ist stupender als der Fortschritt der theoretischen Physik. Die triumphale Anwendung ihrer Erkenntnisse beweist, dass hier mehr am Werk ist als mathematisches Gedankenspiel. Von den physikalischen Gleichungen führt eine überschaubare Reihe von Übersetzungsschritten zu Dampfmaschinen, Fabriken, Raffinerien, nachts hell erleuchteten Großstädten, Autos, Raketen und Rechenmaschinen.

Doch trotz ihres gigantischen Erfolgs ist aus der theoretischen Physik kein harmonisches, widerspruchsfreies Gebilde geworden. Immer wieder schien die große Vereinigung aller Teilbereiche zum Greifen nah, die einheitliche Feldtheorie, die Weltformel – aber jedes Mal kam eine neue Entdeckung dazwischen und erforderte Anbauten und Umbauten des Theoriegebäudes, das darum weniger einem kompakten Haus als einer losen Siedlung gleicht. Wer sich darin orientieren will, braucht die Philosophie. Sie übersetzt die mathematischen Gleichungen in ein Mittelding von Umgangssprache und Fachlatein. Vor allem die Begründer der Quantenphysik argumentierten notgedrungen philosophisch, um das radikal Neue der Theorie zu deuten.

Unterdessen ist die Quantenmechanik längst fest etabliert und trägt reiche Früchte, vom Laser im optischen Laufwerk bis zum Kernspintomografen in der Klinik und demnächst vielleicht im ersten echten Quantencomputer. Ein passender Zeitpunkt also, ein philosophisches Resümee zu ziehen. Den Sammelband "Philosophie der Physik" hat Michael Esfeld herausgegeben, unseren Lesern als Autor eines Artikels zum Thema bekannt (Spektrum der Wissenschaft 6/2011, S. 54). Er steuert zu dem Buch einen Aufsatz über die nach wie vor strittige Deutung der Quantenmechanik bei.

Wo liegt das Problem? In der klassischen Physik herrscht der "lokale Realismus": Was sich hier und jetzt abspielt, wirkt nicht augenblicklich auf beliebig weit entfernte Raumzeitregionen ein. Ich kann ein lokales Phänomen separat untersuchen, ohne gleich die ganze übrige Welt in Betracht ziehen zu müssen. In der Quantenphysik wird dieses Prinzip durchbrochen: So genannte verschränkte Teilchen bleiben, so man sie nicht stört, über beliebige Entfernungen voneinander abhängig. Als Philosoph vertritt Esfeld daher einen "Strukturenrealismus": Die Natur verhält sich nicht atomistisch, sondern holistisch. Es genügt nicht mehr, nur lokal isolierte Objekte – Atome, Elementarteilchen – zu betrachten, sondern der Physiker und ihm folgend auch der Philosoph muss als Grundphänomen die gesamte Struktur berücksichtigen, die von den Objekten und ihren Relationen gebildet wird, mathematisch zu beschreiben durch die Wellenfunktion des betrachteten Quantenzustands.

Natürlich wird mit der Einführung eines philosophischen Fachbegriffs das Problem nicht gelöst, sondern zugespitzt. Im Alltag leben wir durchaus im lokalen Realismus; wenn in China ein Sack Reis umfällt, kümmert mich das unmittelbar gar nicht. Irgendwie muss der quantenmechanische Strukturenrealismus also in den lokalen Alltagsrealismus übergehen – aber wie? Die Frage ist nach wie vor offen. Esfeld diskutiert und bewertet drei verschiedene Lösungsansätze: Everetts Vielweltentheorie, Bohms verborgene Parameter sowie die GRW-Theorie nach Ghirardi, Rimini und Weber. Der Vielweltentheorie – die globale Quantenstruktur spaltet sich ständig in unzählige lokal-realistische Teilwelten auf – erteilt Esfeld eine deutliche Absage, während der Kosmologe Claus Kiefer an anderer Stelle im Buch gerade sie favorisiert.

Bohms Theorie – klassische Teilchen folgen einem quantenmechanischen Führungsfeld – findet in einem Aufsatz von Detlef Dürr und Dustin Lazarovici glühende Verteidiger. Esfeld selbst scheint ebenfalls eine gewisse Schwäche für Bohm zu haben, obwohl bei diesem Ansatz die Teilchen primär und die Struktur – das Führungsfeld – sekundär sind, was für mein Gefühl dem Strukturenrealismus eher widerspricht. Andere Artikel behandeln "ältere" philosophische Probleme der statistischenMechanik und der Relativitätstheorie.

Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass jede neue Theorie der Physik zunächst auf Widerstände und Verständnisschwierigkeiten gestoßen ist. Schon der antike Atomismus widersprach der Anschauung. Newtons Gravitationstheorie mit einer durch den leeren Raum augenblicklich wirkenden Kraft war für die Zeitgenossen ein Skandal. Ein elektromagnetisches Feld ohne einen Träger – den "Äther" – schien vor Einstein so undenkbar wie die Relativität von Zeit und Raum. Die Philosophen hatten in jedem Fall Mühe, die alltägliche Anschauung mit den Herausforderungen durch die jeweils neue Physik zu versöhnen – und ihr Denken allmählich an sie zu gewöhnen.

Mit der Quantenphysik wird es wohl ähnlich gehen. Der Begriff des Strukturenrealismus mag dabei helfen; in den Geisteswissenschaften ist er als Strukturalismus schon ein alter Hut. Ein Glossar sowie ein Namens- und Sachregister machen den soliden Sammelband zum praktischen Handbuch.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2013

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