Angeborene Moral und Vernunft sind keine Gegensätze
Wenn es nach Richard Dawkins, Daniel Dennett, Edward O. Wilson und ihren Mitstreitern geht, dann obliegt die Beantwortung der Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, und wie wir handeln sollen, allein der Evolutionsbiologie. Alles, was Philosophie und andere Geisteswissenschaften dazu beitragen können, sei nur metaphysischer Humbug. Die Evolutionsbiologie könne zwar noch keine voll ausformulierte Alternative zur klassischen Moralphilosophie anbieten, aber dies sei nur eine Frage der Zeit. Da ist es wenig verwunderlich, dass mancher klassische Moralphilosoph auf diesen groben Klotz einen groben Keil setzt.
Der Philosoph und Biologe Christian Illies, der seit Sommer 2006 Philosophie der Kultur und Technik an der Technischen Universität Delft (Niederlande) lehrt, steuert in diesem Getümmel einen Mittelweg. Er selbst beschreibt sein neues Buch als "vorausschauend", als Reflexionshilfe für eine künftige Welt, in der die empirischen Lebenswissenschaften, vor allem Neurobiologie, Soziobiologie und evolutionäre Psychologie, mehr Material zur Deutung des Menschen vorzuweisen haben werden als heute.
Seine Argumentation mündet in eine überzeugende Antwort auf den monopolistischen Deutungsanspruch der Lebenswissenschaften; allerdings übersieht diese Antwort plausible Auflösungen der Kontroverse um die evolutionäre Herkunft unserer Moralvorstellungen.
Christian Illies geht davon aus, dass die empirischen und theoretischen Erkenntnisse der Naturwissenschaften in der Tat in die Moralphilosophie einfließen müssen. Konsequenterweise macht er ausgiebigen Gebrauch von alten und neuen Ergebnissen der Soziobiologie, der Spieltheorie und der experimentellen Ökonomie. Das Buch kulminiert in der These, dass der Mensch von Natur aus moralfähig und für ein Verhalten gemäß denjenigen Normen und Werten angelegt ist, die auch von der Vernunft als richtig eingesehen werden können: Natürliche Anlagen und Vernunftmoral sind laut Illies konvergent.
Damit weist er aber zugleich auch den Biologismus in die Schranken: Die Vernunft hat, neben der Naturwissenschaft und auf sie nicht reduzierbar, eine Begründungsmacht zur Legitimierung moralischer Systeme. Im Selektionskontext einer nach Geltungsgründen fragenden Kultur ist die vernunftgeleitete Begründbarkeit einer Moral ein entscheidender Vorteil. Moral und menschliche Vernunft sind beides Anpassungen, also Produkte der natürlichen Auslese, und in einer aufgeklärten Kultur müssen die beiden konvergieren.
Dies ist eine elegante und überzeugende Alternative zum Projekt der Soziobiologen. Aber Illies setzt sich mit einem Gegner auseinander, dessen Einfluss schon lange seinen Zenit überschritten hat und der nur noch in populären Sachbüchern und Feuilletondebatten punkten kann. In der Evolutionsbiologie ist die wissenschaftsinterne Debatte nach wie vor kontrovers und noch lange nicht abgeschlossen, aber inzwischen weit über Dawkins in seiner Urform hinaus. Radikale, aber legitime Deutungen der Erkenntnisse der evolutionären Entwicklungsbiologie machen der natürlichen Auslese das Erklärungsmonopol streitig, und die Verbindung von Evolutionsbiologie und Entwicklungspsychologie offenbart die oft atemberaubende Naivität soziobiologischer Erklärungen menschlichen Verhaltens.
Diese Entwicklung hat Illies offensichtlich nicht mitvollzogen. Er schreibt in seinem Buch andauernd von "biologischen Anlagen", als käme ein Mensch mit einer festen und fertigen Ausstattung von Fähigkeiten und Dispositionen zur Welt, die sich nur schrittweise in einem angemessenen sozialen Kontext entfalten müssen. Diese Annahme hat durch ihre ständige und unkritische Wiederholung eine Faktizität erlangt, die einer soliden empirischen Grundlage entbehrt. Ein paradigmatisches Beispiel für eine solche angeblich angeborene Disposition ist für Soziobiologen und Evolutionspsychologen die menschliche Sprachfähigkeit.
Dagegen hat Michael Tomasello in seinen Büchern "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens" (2004) und "Constructing a Language" (2005) gezeigt, dass komplexe menschliche Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Eigenschaften in der Individualentwicklung in einem sozial eingebetteten Gebrauch konstruiert werden und keiner detaillierten genetischen Kodierung bedürfen – Konstruktion (Epigenese) und nicht Entfaltung vorgefertigter Anlagen (Präformation) ist die Art und Weise, wie der Mensch seine Form und seine Fähigkeiten erlangt. Laut Tomasello ist eine menschliche Schlüsselanpassung die sich im Lauf der Individualentwicklung manifestierende Fähigkeit, sich in die kognitive Welt anderer Menschen zu versetzen, Empathie zu zeigen; diese Fähigkeit ist in der komplexen sozialen Welt unserer Primatenvorfahren ausgelesen worden.
Die Moralität des Menschen gründet sich, wie Jean Piaget schon vor mehr als 70 Jahren vermutete, möglicherweise auf diese Fähigkeit. Kinder konstruieren sich ihr moralisches Universum im Umgang mit Gleichaltrigen und unter der Anleitung von Erwachsenen. Moralität ist Teil unserer – kulturell und sozial geformten – Natur und muss dieser nicht abgerungen werden. Illies stimmt mit dieser Diagnose überein, aber er neigt dazu, im Einklang mit der Soziobiologie die auf den Menschen wirkenden genetischen und biologischen Zwänge zu überschätzen.
Christian Illies’ Buch hinterlässt letztendlich einen zwiespältigen Eindruck. Es gelingt ihm überzeugend, die Deutungsansprüche der Lebenswissenschaften in Schranken zu weisen. Zugleich aber akzeptiert er zu kritiklos die Grundlagen dieser Deutungsansprüche. Von einem in der Biologie versierten Philosophen kann auch erwartet werden, dass die angeblich objektiven Erkenntnisse der Lebenswissenschaften auf versteckte metaphysische Annahmen untersucht werden.
Der Philosoph und Biologe Christian Illies, der seit Sommer 2006 Philosophie der Kultur und Technik an der Technischen Universität Delft (Niederlande) lehrt, steuert in diesem Getümmel einen Mittelweg. Er selbst beschreibt sein neues Buch als "vorausschauend", als Reflexionshilfe für eine künftige Welt, in der die empirischen Lebenswissenschaften, vor allem Neurobiologie, Soziobiologie und evolutionäre Psychologie, mehr Material zur Deutung des Menschen vorzuweisen haben werden als heute.
Seine Argumentation mündet in eine überzeugende Antwort auf den monopolistischen Deutungsanspruch der Lebenswissenschaften; allerdings übersieht diese Antwort plausible Auflösungen der Kontroverse um die evolutionäre Herkunft unserer Moralvorstellungen.
Christian Illies geht davon aus, dass die empirischen und theoretischen Erkenntnisse der Naturwissenschaften in der Tat in die Moralphilosophie einfließen müssen. Konsequenterweise macht er ausgiebigen Gebrauch von alten und neuen Ergebnissen der Soziobiologie, der Spieltheorie und der experimentellen Ökonomie. Das Buch kulminiert in der These, dass der Mensch von Natur aus moralfähig und für ein Verhalten gemäß denjenigen Normen und Werten angelegt ist, die auch von der Vernunft als richtig eingesehen werden können: Natürliche Anlagen und Vernunftmoral sind laut Illies konvergent.
Damit weist er aber zugleich auch den Biologismus in die Schranken: Die Vernunft hat, neben der Naturwissenschaft und auf sie nicht reduzierbar, eine Begründungsmacht zur Legitimierung moralischer Systeme. Im Selektionskontext einer nach Geltungsgründen fragenden Kultur ist die vernunftgeleitete Begründbarkeit einer Moral ein entscheidender Vorteil. Moral und menschliche Vernunft sind beides Anpassungen, also Produkte der natürlichen Auslese, und in einer aufgeklärten Kultur müssen die beiden konvergieren.
Dies ist eine elegante und überzeugende Alternative zum Projekt der Soziobiologen. Aber Illies setzt sich mit einem Gegner auseinander, dessen Einfluss schon lange seinen Zenit überschritten hat und der nur noch in populären Sachbüchern und Feuilletondebatten punkten kann. In der Evolutionsbiologie ist die wissenschaftsinterne Debatte nach wie vor kontrovers und noch lange nicht abgeschlossen, aber inzwischen weit über Dawkins in seiner Urform hinaus. Radikale, aber legitime Deutungen der Erkenntnisse der evolutionären Entwicklungsbiologie machen der natürlichen Auslese das Erklärungsmonopol streitig, und die Verbindung von Evolutionsbiologie und Entwicklungspsychologie offenbart die oft atemberaubende Naivität soziobiologischer Erklärungen menschlichen Verhaltens.
Diese Entwicklung hat Illies offensichtlich nicht mitvollzogen. Er schreibt in seinem Buch andauernd von "biologischen Anlagen", als käme ein Mensch mit einer festen und fertigen Ausstattung von Fähigkeiten und Dispositionen zur Welt, die sich nur schrittweise in einem angemessenen sozialen Kontext entfalten müssen. Diese Annahme hat durch ihre ständige und unkritische Wiederholung eine Faktizität erlangt, die einer soliden empirischen Grundlage entbehrt. Ein paradigmatisches Beispiel für eine solche angeblich angeborene Disposition ist für Soziobiologen und Evolutionspsychologen die menschliche Sprachfähigkeit.
Dagegen hat Michael Tomasello in seinen Büchern "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens" (2004) und "Constructing a Language" (2005) gezeigt, dass komplexe menschliche Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Eigenschaften in der Individualentwicklung in einem sozial eingebetteten Gebrauch konstruiert werden und keiner detaillierten genetischen Kodierung bedürfen – Konstruktion (Epigenese) und nicht Entfaltung vorgefertigter Anlagen (Präformation) ist die Art und Weise, wie der Mensch seine Form und seine Fähigkeiten erlangt. Laut Tomasello ist eine menschliche Schlüsselanpassung die sich im Lauf der Individualentwicklung manifestierende Fähigkeit, sich in die kognitive Welt anderer Menschen zu versetzen, Empathie zu zeigen; diese Fähigkeit ist in der komplexen sozialen Welt unserer Primatenvorfahren ausgelesen worden.
Die Moralität des Menschen gründet sich, wie Jean Piaget schon vor mehr als 70 Jahren vermutete, möglicherweise auf diese Fähigkeit. Kinder konstruieren sich ihr moralisches Universum im Umgang mit Gleichaltrigen und unter der Anleitung von Erwachsenen. Moralität ist Teil unserer – kulturell und sozial geformten – Natur und muss dieser nicht abgerungen werden. Illies stimmt mit dieser Diagnose überein, aber er neigt dazu, im Einklang mit der Soziobiologie die auf den Menschen wirkenden genetischen und biologischen Zwänge zu überschätzen.
Christian Illies’ Buch hinterlässt letztendlich einen zwiespältigen Eindruck. Es gelingt ihm überzeugend, die Deutungsansprüche der Lebenswissenschaften in Schranken zu weisen. Zugleich aber akzeptiert er zu kritiklos die Grundlagen dieser Deutungsansprüche. Von einem in der Biologie versierten Philosophen kann auch erwartet werden, dass die angeblich objektiven Erkenntnisse der Lebenswissenschaften auf versteckte metaphysische Annahmen untersucht werden.
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