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Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes

Eric Kandel ist der Mensch, dem wir bahnbrechende Erkenntnisse über die Neurophysiologie des Lernens verdanken. Seine Forschungen begannen Anfang der 1960er Jahre an einem Tier, das für seine Lernfähigkeit bis dahin nicht besonders bekannt war: der Meeresschnecke Aplysia californica. An ihr entdeckte er, dass Lernen von Veränderungen der Synapsenstärke abhängt. Eine vorübergehende Veränderung führt zum Kurzzeitgedächtnis, während das Wachstum neuer synaptischer Verbindungen das Gedächtnis verlängert. Für seine Forschungen erhielt er im Jahr 2000 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

In Wien geboren, floh Kandel 1939 im Alter von neun Jahren mit seiner jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten in die USA. Er studierte zunächst Geschichte an der Harvard- Universität, bevor er sein Interesse für die Neurowissenschaften entdeckte. Geleitet von dem Wunsch, Psychoanalytiker zu werden, ließ er sich an der Harvard Medical School in Psychiatrie ausbilden. Doch dann änderte er die Richtung und widmete sich der biologischen Forschung. Im Jahr 1974 kam er als Gründungsdirektor des Zentrums für Neurobiologie und Verhalten an die Columbia- Universität in New York, an der er bis heute aktiv ist. Das vorliegende Buch versammelt Aufsätze Kandels, kommentiert von namhaften Fachkollegen.

"Psychotherapie und die einzelne Synapse" heißt Kandels berühmter Aufsatz aus dem Jahr 1979. Der Titel spielt auf die Spannung an, die damals innerhalb der Psychiatrie zwischen biologischen und psychologischen Ansätzen herrschte und teilweise heute noch herrscht. Das Misstrauen saß tief, wie Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, im Vorwort der deutschen Ausgabe erklärt: Für die Hirnforscher war die Lehre Freuds der Inbegriff unwissenschaftlichen Denkens; umgekehrt waren sie in den Augen der Psychoanalytiker nur Leute, die allem Seelischen mit dem Metermaß auf die Pelle rücken wollten. Kandel bringt seine eigene Position, den "neurobiologischen Reduktionismus", so auf den Punkt: "Was wir als unseren Geist verstehen, ist ein Ausdruck der Funktionsweise unseres Gehirns." Zack. Das sitzt.

Im Aufsatz "Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse" versucht Kandel beide miteinander zu versöhnen, indem er Übereinstimmungen zwischen ihnen aufzeigt. So bestätigen einige Ergebnisse der Neurowissenschaft inzwischen psychoanalytische Annahmen, zum Beispiel die Existenz unbewusster geistiger Prozesse und die Wichtigkeit frühkindlicher Erfahrungen.

"Von der Metapsychologie zur Molekularbiologie" handelt von der Angst. Beim Menschen wohlgemerkt – untersucht hat Kandel aber wieder die Meeresschnecke Aplysia. Er hat nachgewiesen, dass gewisse Gene und deren Proteine, die am Lernen – auch von bedrohlichen Informationen – beteiligt sind, sowohl bei Aplysia als auch bei Insekten und Säugetieren wie zum Beispiel Mäusen die gleichen sind.

"Die Molekularbiologie der Gedächtnisspeicherung" basiert auf der Rede Kandels anlässlich seiner Nobelpreisverleihung im Jahr 2000. In ihr beschreibt er nochmals seinen Werdegang und die Geschichte seiner Forschung. Der letzte Aufsatz "Gene, Gehirne und das Selbstverständnis des Menschen" ist seine Ansprache bei einer Promotionsfeier der Columbia-Universität im Jahr 2001.

Uff! Wenn man dies alles gelesen hat, ist man ein gehöriges Stück weiser als zuvor. Das Buch ist ein echtes Schwergewicht, voller interessanter Fakten, Einsichten und unkonventioneller Ideen. Trotzdem fühlt man sich nicht überfordert, denn die Kommentatoren der einzelnen Aufsätze nehmen den Leser an der Hand und führen ihn durch die Forschung und das Leben Kandels.

Im Buch geht es um mehr als Neurobiologie und Psychoanalyse. Es ist ein Werk über das letzte große Rätsel der Wissenschaft – den menschlichen Geist. Was dem 20. Jahrhundert das Gen, das wird dem 21. Jahrhundert der Geist sein, prophezeit Kandel. Das menschliche Genom ist entschlüsselt; die Erforschung der rund 200 Milliarden Gehirnzellen aber hat gerade erst begonnen.

Kandels Forschung trägt einen großen Teil dazu bei und berührt grundlegende Fragen der Menschheit: Gibt es einen freien Willen? Denken wir oder werden wir gedacht? Gibt es eine Trennung von Gehirn und Geist? Das sind schwere Kaliber, aber Kandel nähert sich ihnen erfrischend unbefangen und frei von ideologischem Überbau. Für ihn gibt es lediglich Nervenzellen und die Verbindungen zwischen ihnen – alles Geistige ergibt sich dann aus den elektrischen Impulsen in unserem Gehirn. Der Beweiskraft seiner wissenschaftlichen Schilderungen kann man sich kaum entziehen.

Dabei belässt er es aber nicht: Er führt seine Gedanken weiter zu einem neuen Humanismus und formuliert die Hoffnung, dass die Einsicht in unsere biologische Beschaffenheit vieles besser machen wird. Durch die genaue Kenntnis der genetischen Veranlagung eines jeden könnte die medizinische Versorgung individueller werden. Das wachsende neurobiologische Wissen könnte zu einem besseren Verständnis von Psychotherapie und ihrer Wirkung führen; Psychopharmaka könnten dann zielgerichteter und sparsamer eingesetzt werden. Wenn Gespräche die Hirnphysiologie beeinflussen können, wozu dann den Patienten noch die Nebenwirkungen der Medikamente zumuten?

Dazu müssten sich allerdings die Psychoanalyse und die Neurobiologie miteinander anfreunden. "Sehen wir die Anfänge eines Dialogs?", fragt Kandel auf Seite 168. Freud selbst würde sich einen solchen wohl wünschen, hatte er doch seine Karriere mit dem Studium des Nervensystems begonnen, bevor er sich dem menschlichen Geist widmete. Der amerikanische Psychologe und Neurowissenschaftler Joseph LeDoux, einer der Kommentatoren in diesem Buch, unterstellt Freud sogar: "Würde er heute leben, wäre er sicherlich ein großer Bewunderer von Eric Kandels Forschung und Schriften."

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 08/2007

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