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Langer Weg zum Selbst

Wie entsteht die Subjektivität eines Menschen? Auf diese Frage suchte der Psychologe Wolfgang Prinz, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, in langjähriger Forschungsarbeit eine Antwort. Nun präsentiert er die Summe seiner Erkenntnisse in diesem Buch.

Nach einer weit verbreiteten Sichtweise ist das Selbst quasi ein Nebenprodukt unserer höheren geistigen Leistungen, eine Art Projektionsfläche, die wir brauchen, um uns als autonom handelnde und fühlende Wesen zu begreifen. Aus unserem eigenen subjektiven Innenleben schließen wir sodann auf das unserer Mitmenschen – direkt beobachten oder gar beweisen lässt sich das Selbst der anderen hingegen nicht.

Prinz kehrt diese intuitiv nachvollziehbare Reihenfolge kurzerhand um: Zunächst, so der Forscher, stellen wir fest, dass wir andere nur verstehen können, wenn wir ihnen ein mentales Innenleben zuschreiben. Erst das so gewonnene Bild unserer Mitmenschen lehrt uns, dass auch wir selbst Wesen mit Absichten und Bewusstsein sind. Von zentraler Bedeutung ist für Prinz die Idee der Spiegelung: Wenn etwa die Mutter das Lächeln des Babys erwidert, nimmt der Säugling dies als Resultat seines eigenen Verhaltens auf Seiten der Mutter wahr.

Für den Kognitionswissenschaftler ist das Selbst damit zu wesentlichen Teilen ein soziales Konstrukt. Kurz gesagt: ohne den anderen kein Ich. Individuen können es nur durch Interaktion mit einem Gegenüber erschaffen. Illusionär sei das Ich damit keineswegs. Denn auch sozial konstruierte Tatsachen seien real, sofern sie unser Denken und Handeln prägen.

Ähnlich argumentiert Prinz beim Thema Willensfreiheit: Menschen gehen so miteinander um, als könnten sie autonom entscheiden. Im Rahmen unserer alltäglichen sozialen Praxis sind wir also tatsächlich Handelnde mit freiem Willen. Darüber hinaus – auf Ebene der neuronalen Zustände und Gesetzmäßigkeiten – gibt es für Prinz aber keinen Raum für die Willensfreiheit. Der Forscher glaubt vielmehr, dass wir uns über den Grad der inneren und äußeren Determiniertheit unseres Tuns großen Illusionen hingeben.

Um seine Ansichten zu untermauern, macht Prinz Anleihen bei verschiedenen Fachdisziplinen, allen voran den Kognitions- und Neurowissenschaften. Daneben lässt er immer wieder philosophische Überlegungen in seine Argumentation einfließen. Die Kernthese bleibt am Ende spekulativ; schließlich ist es experimentell kaum zu beweisen, dass ein Baby in einer bestimmten Entwicklungsphase zwar schon ein Verständnis der anderen besitzt, aber noch keines von sich selbst.

Das eigentliche Manko des Buchs ist jedoch die abstrakte, oft technisch anmutende Sprache. Leider hat auch der Übersetzer Jürgen Schröder dem im Original englischen Text (unter dem Titel "Open Minds" 2012 bei MIT Press erschienen) wenig Lebendigkeit eingehaucht. Zudem sind die Schilderungen von Experimenten, die Prinz’ Argumentation veranschaulichen könnten, oft in die Fußnoten verbannt worden und damit der Lesbarkeit nicht gerade förderlich. Wer sich dennoch eine spannende Theorie der Subjektivität detailreich erläutern lassen will, liegt bei diesem 500-seitigen Werk richtig.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 7–8/2013

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