Tatort Gehirn
Die seit einigen Jahren hitzig geführte Debatte um die Willensfreiheit verlagert sich in letzter Zeit dorthin, wo sie große praktische Relevanz hat, nämlich in das Strafrecht und den Strafvollzug. Der zentrale Begriff der Schuld ist – zumindest in der herrschenden Theorie – fest an die Annahme gebunden, dass der Täter die Möglichkeit hatte, sich trotz aller psychischen oder sozialen Bedingtheit seines Handelns für oder gegen die Tat zu entscheiden.
"Ohne Schuld" handelt ein Täter demnach nur, wenn er entweder keine Einsicht in geltende Normen hat oder nicht in der Lage ist, ihnen gemäß zu handeln. Dafür müssen schwer wiegende Gründe vorliegen, wie sie im Paragraf 20 des deutschen Strafgesetzbuchs genannt sind, zum Beispiel Schizophrenie oder eine schwere Intelligenzminderung.
Seit Langem aber vertreten manche Juristen und Experten die Meinung, alle Schwerverbrecher seien bereits im herkömmlichen strafrechtlichen Sinn nach Paragraf 20 nicht schuldfähig, weil sie psychisch krank sind. Sollte sich diese Meinung durchsetzen, dürfte dies zu einer Revolution in Strafrecht und Strafvollzug führen.
Das ist auch die Ausgangsthese des Buchs "Tatort Gehirn – Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens", das der bekannte Bielefelder Neuropsychologe und Hirnforscher Hans Markowitsch zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Werner Siefer veröffentlicht hat. In diesem sehr lesbar geschriebenen Buch tragen die Autoren alle neueren neurobiologischen und -psychologischen Erkenntnisse einschließlich eigener Forschungsergebnisse und Erfahrungen zusammen, um die Frage zu klären, warum Gewalttäter das tun, was sie tun.
Die Datenlage ist ziemlich klar: Bei nahezu allen mittels bildgebender Verfahren untersuchten Personen, die wegen Mord, Totschlag oder wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurden, liegen Defekte vornehmlich im Stirnhirn, seltener auch im Schläfenlappen vor, oder aber Störungen im Stoffwechsel von Hirnbotenstoffen wie Serotonin oder dem Sexualhormon Testosteron, die das Erleben und Verhalten eines Menschen massiv beeinflussen können.
Markowitsch und Siefer mahnen allerdings zur Vorsicht: Nur in schweren Fällen führen Hirnschädigungen allein schon zu gewalttätigem Verhalten. Bei den meisten Gewalttätern findet sich vielmehr eine Kombination solcher Defekte mit schweren frühkindlichen Störungen in Bindung und psychosozialer Entwicklung, häufig infolge von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch. Im Umkehrschluss bedeutet das: Ein Mensch mit gesundem Gehirn und "gesunden" Genen kann in gewissem Ausmaß psychosoziale Schädigungen überstehen, und umgekehrt können genetische und hirnbiologische Defizite durch günstige psychosoziale Umstände kompensiert werden.
Gewaltkriminalität ist – von Einzelfällen abgesehen – weder strikt neurobiologisch noch allein durch soziale Umstände determiniert, vielmehr macht das Ineinandergreifen von Genen, Hirnentwicklung, Bindungserfahrung und psychosozialer Prägung letztlich die Gewaltbereitschaft aus.
Gefährliche Gefühlsarmut
Die Autoren stellen fairerweise klar, dass trotz der großen Fortschritte in den Neurowissenschaften hier noch vieles unerforscht ist – zum Beispiel, was die Gruppe der gefühlskalten Mörder angeht, die in der Öffentlichkeit besondere Abscheu erregen. Sie weisen keineswegs die gleichen Hirndefizite auf wie Impulsivtäter, sondern eine außergewöhnliche Gefühlsarmut und einen Mangel an Empathie. Solche "Psychopathen" oder "Soziopathen" sind häufig sehr intelligent und deshalb gelegentlich in der Lage, Gerichtspsychiatern Therapieerfolge vorzutäuschen, um auf diese Weise ihre vorzeitige Entlassung zu erreichen.
Das Ärgernis der heutigen Strafrechtspraxis liegt nach Ansicht der Autoren sowie vieler Strafrechtler darin, dass die vorliegenden Erkenntnisse und diagnostischen Möglichkeiten vor Gericht noch zu wenig genutzt werden. So werden etwa bei einem pädophilen Mörder die problematische soziale Herkunft, die frühen körperlichen und psychischen Traumatisierungen – die pädophilen Gewalttäter waren in der Mehrzahl als Kinder selbst Opfer sexueller Gewalt – und die gesamte Gewaltkarriere erörtert. Gleichzeitig aber bescheinigen Gerichtspsychiater "volle Schuldfähigkeit", sofern nicht etwa ein Hirntumor oder eine Geisteskrankheit vorliegt.
Hier – so die Forderung von Markowitsch und Siefers – ist eine radikale Abkehr von der strafrechtlichen Fiktion geboten, diese Täter seien moralisch schuldig, weil sie die Tat ebenso gut hätten unterlassen können. Die Alternative besteht nach Meinung vieler Experten darin, den Schuldbegriff zu beschränken und den Präventions- und Therapiegedanken in den Vordergrund zu rücken. Wie das praktisch umzusetzen wäre, ist freilich noch weit gehend unklar.
Ebenso ungeklärt und dringlich scheint die Frage der Vorbeugung. Wer schon in Kindheit oder Jugend mit Gewalttaten auffällt, entwickelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schwerverbrecher. Sollte die Gesellschaft daher frühzeitig eingreifen – und wenn ja, wie? Auch gegen den Willen uneinsichtiger Eltern?
Die Autoren bekennen sich eindeutig zur Frühdiagnose und Frühtherapie – wohl wissend, dass dies ein heißes Thema ist und dass die entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Werkzeuge keineswegs ausgereift sind. Hier entsteht ein ethisches Dilemma: Ist es im Fall einer Diagnose von Gewaltbereitschaft bei einem kleinen Jungen verwerflich oder im Gegenteil sogar geboten, in dessen Entwicklung und die Rechte seiner Eltern einzugreifen? Muss man umgekehrt nicht das Kind davor schützen, in die Gewaltspirale abzustürzen?
Die Autoren gehen diesen schwierigen Fragen nicht aus dem Weg. Ihr Verdienst liegt darin, in kompetenter Weise wichtige Argumente für eine Debatte gesichtet zu haben, die uns noch lange in Atem halten wird.
"Ohne Schuld" handelt ein Täter demnach nur, wenn er entweder keine Einsicht in geltende Normen hat oder nicht in der Lage ist, ihnen gemäß zu handeln. Dafür müssen schwer wiegende Gründe vorliegen, wie sie im Paragraf 20 des deutschen Strafgesetzbuchs genannt sind, zum Beispiel Schizophrenie oder eine schwere Intelligenzminderung.
Seit Langem aber vertreten manche Juristen und Experten die Meinung, alle Schwerverbrecher seien bereits im herkömmlichen strafrechtlichen Sinn nach Paragraf 20 nicht schuldfähig, weil sie psychisch krank sind. Sollte sich diese Meinung durchsetzen, dürfte dies zu einer Revolution in Strafrecht und Strafvollzug führen.
Das ist auch die Ausgangsthese des Buchs "Tatort Gehirn – Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens", das der bekannte Bielefelder Neuropsychologe und Hirnforscher Hans Markowitsch zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Werner Siefer veröffentlicht hat. In diesem sehr lesbar geschriebenen Buch tragen die Autoren alle neueren neurobiologischen und -psychologischen Erkenntnisse einschließlich eigener Forschungsergebnisse und Erfahrungen zusammen, um die Frage zu klären, warum Gewalttäter das tun, was sie tun.
Die Datenlage ist ziemlich klar: Bei nahezu allen mittels bildgebender Verfahren untersuchten Personen, die wegen Mord, Totschlag oder wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurden, liegen Defekte vornehmlich im Stirnhirn, seltener auch im Schläfenlappen vor, oder aber Störungen im Stoffwechsel von Hirnbotenstoffen wie Serotonin oder dem Sexualhormon Testosteron, die das Erleben und Verhalten eines Menschen massiv beeinflussen können.
Markowitsch und Siefer mahnen allerdings zur Vorsicht: Nur in schweren Fällen führen Hirnschädigungen allein schon zu gewalttätigem Verhalten. Bei den meisten Gewalttätern findet sich vielmehr eine Kombination solcher Defekte mit schweren frühkindlichen Störungen in Bindung und psychosozialer Entwicklung, häufig infolge von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch. Im Umkehrschluss bedeutet das: Ein Mensch mit gesundem Gehirn und "gesunden" Genen kann in gewissem Ausmaß psychosoziale Schädigungen überstehen, und umgekehrt können genetische und hirnbiologische Defizite durch günstige psychosoziale Umstände kompensiert werden.
Gewaltkriminalität ist – von Einzelfällen abgesehen – weder strikt neurobiologisch noch allein durch soziale Umstände determiniert, vielmehr macht das Ineinandergreifen von Genen, Hirnentwicklung, Bindungserfahrung und psychosozialer Prägung letztlich die Gewaltbereitschaft aus.
Gefährliche Gefühlsarmut
Die Autoren stellen fairerweise klar, dass trotz der großen Fortschritte in den Neurowissenschaften hier noch vieles unerforscht ist – zum Beispiel, was die Gruppe der gefühlskalten Mörder angeht, die in der Öffentlichkeit besondere Abscheu erregen. Sie weisen keineswegs die gleichen Hirndefizite auf wie Impulsivtäter, sondern eine außergewöhnliche Gefühlsarmut und einen Mangel an Empathie. Solche "Psychopathen" oder "Soziopathen" sind häufig sehr intelligent und deshalb gelegentlich in der Lage, Gerichtspsychiatern Therapieerfolge vorzutäuschen, um auf diese Weise ihre vorzeitige Entlassung zu erreichen.
Das Ärgernis der heutigen Strafrechtspraxis liegt nach Ansicht der Autoren sowie vieler Strafrechtler darin, dass die vorliegenden Erkenntnisse und diagnostischen Möglichkeiten vor Gericht noch zu wenig genutzt werden. So werden etwa bei einem pädophilen Mörder die problematische soziale Herkunft, die frühen körperlichen und psychischen Traumatisierungen – die pädophilen Gewalttäter waren in der Mehrzahl als Kinder selbst Opfer sexueller Gewalt – und die gesamte Gewaltkarriere erörtert. Gleichzeitig aber bescheinigen Gerichtspsychiater "volle Schuldfähigkeit", sofern nicht etwa ein Hirntumor oder eine Geisteskrankheit vorliegt.
Hier – so die Forderung von Markowitsch und Siefers – ist eine radikale Abkehr von der strafrechtlichen Fiktion geboten, diese Täter seien moralisch schuldig, weil sie die Tat ebenso gut hätten unterlassen können. Die Alternative besteht nach Meinung vieler Experten darin, den Schuldbegriff zu beschränken und den Präventions- und Therapiegedanken in den Vordergrund zu rücken. Wie das praktisch umzusetzen wäre, ist freilich noch weit gehend unklar.
Ebenso ungeklärt und dringlich scheint die Frage der Vorbeugung. Wer schon in Kindheit oder Jugend mit Gewalttaten auffällt, entwickelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schwerverbrecher. Sollte die Gesellschaft daher frühzeitig eingreifen – und wenn ja, wie? Auch gegen den Willen uneinsichtiger Eltern?
Die Autoren bekennen sich eindeutig zur Frühdiagnose und Frühtherapie – wohl wissend, dass dies ein heißes Thema ist und dass die entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Werkzeuge keineswegs ausgereift sind. Hier entsteht ein ethisches Dilemma: Ist es im Fall einer Diagnose von Gewaltbereitschaft bei einem kleinen Jungen verwerflich oder im Gegenteil sogar geboten, in dessen Entwicklung und die Rechte seiner Eltern einzugreifen? Muss man umgekehrt nicht das Kind davor schützen, in die Gewaltspirale abzustürzen?
Die Autoren gehen diesen schwierigen Fragen nicht aus dem Weg. Ihr Verdienst liegt darin, in kompetenter Weise wichtige Argumente für eine Debatte gesichtet zu haben, die uns noch lange in Atem halten wird.
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