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Das Denken der Anderen

Menschen leben in einem Geflecht sozialer Beziehungen. Das Handeln anderer Menschen zu verstehen, bildet die Grundlage sozialer Interaktion und Kommunikation. Wir sind in der Lage, ihre Beweggründe nachzuempfinden, und nehmen wahr, dass sie glücklich oder traurig sind. Bisweilen nutzen wir diese Fähigkeiten auch, um unsere Mitmenschen zu täuschen.

Herausgeber Hans Förstl, Neurologe und Psychiater, beleuchtet gemeinsam mit renommierten Autoren wie dem Philosophen Albert Newen und Hirnforscher Gerhard Roth ein derzeit lebhaft diskutiertes Konzept, das den beschriebenen Fertigkeiten zu Grunde liegt: die "Theory of Mind" (ToM), ein Begriff, für den es keine treffende deutsche Übersetzung gibt. Er bezeichnet die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Absichten zu verstehen.

Die Theory of Mind hat daher einen großen Einfluss auf unser soziales Verhalten: Ohne Interesse an anderen Menschen, ohne ein Gefühl für ihre Bedürfnisse und ohne differenziertes Verständnis ihrer Perspektive können sich weder Mitgefühl noch Rücksicht, Respekt oder Einfühlungsvermögen entwickeln. Im täglichen Leben sind wir aber darauf angewiesen. Will man den Chef um eine Gehaltserhöhung bitten, tut man gut daran, dessen Stimmungslage zu berücksichtigen, denn bei einem missgelaunten Boss kann man mitunter bösen Schiffbruch erleiden.

Das Spektrum der Beiträge umfasst nicht nur die sozialen Neurowissenschaften und verwandte Disziplinen, sondern auch benachbarte Gebiete. Förstl verbindet unter dem Gesichtspunkt des »sittlichen Verhaltens« unter anderem Evolutionslehre, Ethnologie, Entwicklungspsychologie, Psychiatrie, Soziobiologie und Zoologie sowie Themen wie Kunst, Kommunikation, Kriminalität und Religion.

An den Anfang hat der Herausgeber jedoch einen interessanten Überblick über die Grundlagen der Theory of Mind gestellt. Offenbar liegt dem scheinbar intuitiven Verständnis fremder Handlungen, Affekte und Intentionen eine automatische Aktivierung ihrer Repräsentationen im Gehirn zu Grunde.

Als potenzielles neuronales Substrat entdeckte der italienische Forscher Giacomo Rizzolatti Anfang der 1990er Jahre im Tierversuch die so genannten Spiegelneurone. Das sind Nervenzellen, die sowohl bei eigenen Handlungen aktiv werden als auch dann, wenn wir bei einer anderen Person die gleiche Handlung beobachten.

Einige Neurowissenschaftler interpretieren die Theory of Mind als Produkt von inneren Nachahmungen – andere dagegen betrachten sie als "Metarepräsentationen". Die beiden Konzepte können sich aber auch ergänzen: Simulationsvorgänge spielen möglicherweise eine Schlüsselrolle, wenn fremdes Verhalten und Bewusstsein neuronal abgebildet wird. Experimente mit bildgebenden Verfahren haben zu Grunde liegende neuronale Prozesse in verschiedenen, vorderen und an der Schläfe gelagerten Hirnregionen lokalisiert.

Die Entwicklung der Basisfertigkeiten ist im Alter von etwa fünfeinhalb Jahren abgeschlossen. Empathie tritt zum Beispiel erst dann auf, wenn das Kind in der Lage ist, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Soziales Verhalten kann aber auch bei niederen Arten beobachtet werden, zum Beispiel wenn Tiere einander helfen. So haben Untersuchungen an Schimpansen eine rudimentäre Form einer Theory of Mind nachgewiesen.

Spannend stellen die von Förstl gesammelten Beiträge dar, welche Rolle die Theory of Mind bei der Ausbildung von Identität, Selbstbewusstsein, Selbstzweifeln, Willensfreiheit sowie Moral und sittlichem Verhalten spielt. Wenn diese Prozesse gestört werden, kann sich eine soziopathische Persönlichkeit entwickeln. Auch bei Autismus und einigen Formen der Schizophrenie gehen Forscher von einer Beeinträchtigung aus.

Das Buch informiert umfassend über die Theory of Mind und ihre soziokulturelle Bedeutung. Zahlreiche Grafiken veranschaulichen die Inhalte, und zusätzlich erhält der Leser Hintergrundinformationen zu den angesprochenen Disziplinen.

Die Beiträge sind in Tiefe und Ausführlichkeit jedoch ein wenig unausgewogen und die thematischen Sprünge zwischen den Kapiteln zum Teil recht groß, was das Lesen erschwert. Wenn das Buch jedoch als Nachschlagewerk dienen soll, kommen interessierte Laien und Fachleute

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  • Quellen
Gehirn & Geist 11/2007

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