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"Uns geht es recht gut"

Wer den berühmten Wiener Seelenkundler einmal von einer ganz anderen, privaten Seite kennen lernen möchte, liegt mit diesem dicken Schmöker richtig. Der von Michael Schröter herausgegebene Band versammelt Freuds Briefe an seine Kinder – genauer gesagt an fünf der sechs (drei Mädchen und drei Jungen), die Martha Freud in rascher Folge zwischen 1887 und 1895 zur Welt brachte. Die jüngste Tochter Anna nämlich trat in Papas Fußstapfen, wurde selbst Psychoanalytikerin und tauschte sich derart intensiv mit dem Vater aus, dass der entstandene Briefwechsel ein eigenes Konvolut füllt.

Schröter beschränkt sich also auf die Korrespondenz mit den Erstgeborenen, die für Freuds Theorien und fachlichen Belange – zumindest diesen Zeugnissen nach zu urteilen – eher wenig Interesse hegten. Mathilde und Sophie heirateten Kaufleute, Martin wurde Jurist, Oliver Ingenieur, Ernst Architekt.

Freuds berühmte Praxisadresse in der Wiener Berggasse 19 beherbergte um die Jahrhundertwende eine vielköpfige Familie: Neben der Kinderschar gehörten noch Marthas unverheiratete Schwester Minna sowie Köchin, Dienst- und Kindermädchen zum Haushalt. Der Patriarch Freud stand somit unter erheblichem Erfolgsdruck, um seine Familie zu versorgen und auch die bereits erwachsenen Kinder finanziell zu unterstützen.

Freud war kein Papa zum Anfassen und gemeinsam Spielen – das sah die bürgerliche Ordung jener Zeit auch gar nicht vor. Er war in erster Linie Ernährer sowie Ratgeber und Kummerkasten in der Not. Beinah rührend ist zu lesen, wie sich der "Liebe Papa" dabei stets um die richtige Balance zwischen verständnisvollem Zuhörer und autoritärem Familienoberhaupt bemüht. "Schließlich wirst Du selbst zu entscheiden haben, aber (...) von dem Recht, Deine Neigung zu controllieren, so lange du im Leben u(nd) in der Liebe so unerfahren bist, möchte ich doch Gebrauch machen", schreibt er im Mai 1908 an die älteste Tochter Mathilde, als sich diese mit dem wenig erfolgreichen Handelsagenten Robert Hollitscher verloben will. Am Ende heiraten die beiden Freuds Bedenken zum Trotz.

Auf rund 650 Seiten versammelt dieses Buch ein Fülle von Zeugnissen gänzlich privaten, ja häufig trivialen Inhalts: die Güte diverser Ferienunterkünfte (die Freuds pflegten oft mehrwöchige Sommerfrischen), Einkünfte für Veröffentlichungen und Vorträge, die Freud großzügig im Familienkreis verteilte, Verlobungen, Todesfälle und Jubiläen sowie das alltägliche "Wie geht es euch, uns geht es recht gut".

Der Erste Weltkrieg, die Wirtschaftskrise und der Nazi-Wahn scheinen in dem mehr als 30-jährigen Zeitraum, den die Briefe abdecken, immer wieder durch. Den Widrigkeiten ihrer Zeit trotzen die Freuds mit Glück und Geschick.

Über Psychoanalyse erfährt man in diesem Buch zwar nichts – dafür umso mehr darüber, wie die von Freud selbst als "Mohrenwäsche " bezeichnete Therapiemethode zur wirtschaftlichen Grundlage eines Familienklans wird. Von den für jedes Kind kapitelweise chronologisch sortierten Dokumenten geht ein magischer Sog aus; Schröter gelingt eine außergewöhnliche Familiensage.

Sie ist zwar lückenhaft, da viele Schriftstücke in den Wirren der Kriege verloren gingen, so dass manche Anspielungen und Verweise dunkel bleiben. Aber die Sammlung und die klugen Annotationen geben dem Leser einen lebendigen Einblick in Zeit und Leben der Freuds bis zum Tod Sigmunds im Londoner Exil 1939.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 12/2010

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