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Der Kosmos im Labor

Angesichts der Dimensionen heutiger Forschungsgeräte ist es gängige Praxis, dass sich Autoren zu Superlativen hinreißen lassen. Der Buchtitel "Urknall im Labor" von Dieter B. Herrmann jedenfalls übersteigt die Realität bei Weitem: Mit "Labor" ist der brandneue Large Hadron Collider (LHC) des CERN in Genf gemeint. Der Durchmesser des Rings, in dem Kernteilchen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit kollidieren sollen, beträgt beachtliche 8,5 Kilometer – leider etwas zu wenig, um die Energie für die vorausgesagte Vereinigung der Naturkräfte – geschweige denn die des "Urknalls" – aufzubringen. Dafür bräuchte man wohl einen Ring von der Größe der Milchstraße, die einen Durchmesser 100 000 Lichtjahren aufweist.

In der Einleitung wird dann schon weniger dick aufgetragen: Der Urknall solle im LHC "nachgeahmt werden, wenn auch nur in kleinstem Maßstab". Interessanterweise nimmt der neue Teilchenbeschleuniger nur einen relativ kleinen Teil des Buchs ein. Wurde hier auch noch das Thema verfehlt?

Alles kein Problem, denn Dieter B. Herrmann hat eine Menge mehr zu bieten als den üblichen populärwissenschaftlichen Gemischtwarenladen à la Bublath. Das liegt vor allem an seinem "Background": die Wissenschaftsgeschichte. Hier ist er Autor vieler fundierter Werke, vor allem zur Astronomie. Das prägt auch den Inhalt dieses Buchs. Der LHC ist nur ein Alibi für eine historische Aufarbeitung der immer enger werdenden Verbindung von Physik und Astronomie, und so gesehen passt der Titel "Urknall im Labor" ganz gut, geht es doch heute um die (theoretische) Vereinigung von Makro- und Mikrokosmos, repräsentiert durch scheinbar so gegensätzliche Gebiete wie Kosmologie (Allgemeine Relativitätstheorie) und Teilchenphysik (Quantenfeldtheorie).

Bereits im ersten Kapitel "Kosmische Vorgänge und irdische Experimente" wird diese Absicht deutlich. Grundlage ist die universelle Gültigkeit der physikalischen Gesetze; bereits eindrucksvoll sichtbar in der Newtonschen Mechanik: Die Ursache für den fallenden Apfel ist dieselbe wie für die Planetenbewegung. Der Stab wird weitergegeben an "Sterne und Atome". Die Spektroskopie hat uns das Innere der Sonne und Sterne eröffnet. Ohne auch nur einen Fuß vor die "Tür" der Erde zu setzen, sind wir in der Lage, die Zusammensetzung der entferntesten kosmischen Objekte zu erkennen – jedenfalls so lange sie elektromagnetische Strahlung aussenden. Die Kernphysik liefert dazu das nötige Wissen über die Energieerzeugung. Alter, Masse, Leuchtkraft und Dynamik von Sternen und Galaxien sind heute über riesige Distanzen "messbar".

Im dritten Kapitel geht es dann ums "Ganze". Herrmann zeigt, wie sich die kosmologischen Hypothesen von den alten Griechen über Kopernikus und Newton bis hin zu Einstein gewandelt haben. Hier betritt nun der Urknall die Bühne. Es geht um interessante Fragen: Wie kam es zur Vorstellung einer Anfangssingularität, was war in den berühmten "ersten drei Minuten" und wie wurde das Relikt des Urknalls, die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt?

Zentral für das Thema des Buchs ist Kapitel 5: "Der Kosmos als Labor – das Labor als Kosmos". Was früher der "Kosmos Experimentierkasten" war ist heute dank "irdischer" Physik das Universum selbst! Der LHC symbolisiert die derzeit höchste Stufe der Verbindung zwischen den kleinsten und größten Dimensionen. Man hofft zu klären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Eine der wichtigsten Fragen klingt dabei seltsam rückwärtsgewandt: Was ist Masse? Wer glaubt, Newton – oder zumindest Einstein – hätten dazu schon alles Wesentliche gesagt, irrt: Ihre Theorien können das mysteriöse Massenspektrum der Elementarteilchen nicht erklären. Warum besitzen Proton, Neutron und Elektron gerade die gemessenen Werte? Vielleicht liegt die Antwort in der Peter Higgs' Theorie von 1964. Findet CERN das darin postulierte Higgs-Boson? Das nobelpreisverdächtige Experiment steht noch aus, nicht zuletzt wegen technischer Probleme beim Anfahren des LHC. Nichts Geringeres als die bewährten aber bereits in die Jahre gekommenen Standardmodelle der Mikro- und Makrophysik stehen auf dem Spiel. Vielleicht wird ja auch das Tor zur längst fälligen Theorie der Quantengravitation aufgestoßen. Im letzten Kapitel zeigt sich Herrmann hier allerdings skeptisch, zumindest was die aktuellen Kandidaten angeht: "Stringtheorie" und "Schleifen-Quantengravitation" (auf S. 182 irrtümlich als "Quanten-Schleifengravitation" bezeichnet).

Der genannte Fehler bestätigt leider eine generelle Schwäche von Springer-Publikationen: das Lektorat. So ist auf S. 94 von "Mikrowellenwellen" die Rede. Anzumerken ist auch, dass die Kernbausteine als "Partonen" bezeichnet werden (S. 176). Dieser überholte Begriff bezeichnet hypothetische Bestandteile von Hadronen. Falsch ist die Aussage, William Herschel habe die Statistik der Milchstraße mit seinem 120-Zentimeter-Spiegelteleskop durchgeführt (S. 77). Es wurde erst später gebaut; das verwendete Fernrohr hatte eine Öffnung von 47 Zentimetern. Man könnte auch die spärliche grafische Ausstattung bemängeln, da es nur wenige schwarzweiße Abbildungen gibt.

All dies fällt aber kaum ins Gewicht. Entscheidend ist der klar und flüssig geschriebene Text. Das Buch ist sehr informativ und auch für Laien verständlich. Hier profitiert es vor allem vom historischen Wissen des Autors. Geschichten und Hintergründe sind immer gut, um komplizierte Fakten geschmeidig zu machen. Als Abrundung gibt es noch einen Glossar und ein Personen- und Literaturverzeichnis. Mein Fazit: Eine empfehlenswerte Lektüre, die uns zum Thema "Verbindung von Mikro- und Makrokosmos" auf den neuesten Stand bringt. Warten wir als gespannt auf die Resultate aus dem "LHC-Labor" – und auf neue Fragen.

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