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Viren sei dank

Viren kennen wir meist nur als Krankheitserreger. Dass sie der Evolution des Menschen gelegentlich auch von Vorteil sind, ist weniger geläufig: Rund 40 Prozent unserer DNA bestehen aus genetischen Elementen, die ursprünglich von Viren stammen. Die Rolle dieser "viralen Sequenzen" in der Stammesgeschichte des Menschen will der promovierte Mediziner Frank Ryan deutlich machen. Der Autor verspricht ein bahnbrechendes und kontroverses Werk – überschätzt seinen Beitrag damit allerdings gründlich.

Zunächst beschreibt er am Beispiel von Säugetieren, inwiefern Viren dem Überleben einer Spezies helfen können. Wenn sich virale Sequenzen in die DNA eines Lebewesens integrieren, kann daraus eine Symbiose entstehen – eine friedliche Koexistenz meist zum beiderseitigen Nutzen. So zeigten Forscher zum Beispiel im Jahr 2000, dass so genannte Retroviren einst Bauanleitungen für Proteine einschleusten, die heute dafür sorgen, dass sich bei einem Säugetier die Plazenta bildet, und auf diese Weise den Nährstoffaustausch zwischen der Mutter und ihrem ungeborenen Kind sicherstellen. Die Viren profitieren ihrerseits davon, weil das Wirtstier Teile ihrer Erbsubstanz aufgenommen hat und nun vervielfältigt.

Im zweiten Teil des Buchs beschäftigt sich Ryan hauptsächlich mit der Rolle der ursprünglich viralen Sequenzen bei der Entstehung von Krebs und Autoimmunstörungen. Dann springt er weiter zu so genannten epigenetischen Einflüssen: Sie verändern nicht die Gensequenzen selbst, sondern wie diese abgelesen werden. Inwieweit epigenetische Veränderungen bei Tieren und Menschen vererbt werden können, ist noch unklar.

Beim Lesen bekommt man leicht den Eindruck, als hätte noch kaum jemand über die Rolle der Viren in der Evolution nachgedacht und als wäre dies daher ein kontroverses Thema. Beides ist falsch. Auch die These, dass die biologische Evolution nicht ausschließlich auf Selektion und Mutation beruht, ist weder neu noch umstritten. Der Autor führt dazu einige andere Mechanismen an – darunter Epigenetik und das Herumspringen mobiler Genabschnitte, doch auch diese sind längst bekannt.

So löblich es ist, diese Erkenntnisse einem breiten Publikum vorstellen zu wollen, krankt Ryans Darstellung neben der inhaltlichen Unausgewogenheit auch an sprachlichen Ungenauigkeiten. Der Autor springt oft abrupt von einem Thema zum anderen. Wie etwa die Epigenetik mit der Rolle der Viren in der Evolution zusammenhängt, bleibt im Dunkeln.

Interviews mit Experten gibt Ryan seitenweise in Dialogform wieder – und lobt dabei die Weitsicht seiner eigenen Fragen. Dafür mangelt es an Illustrationen: Das ganze Buch enthält nur fünf, die noch dazu nicht selbsterklärend sind und bei denen aussagekräftige Legenden fehlen. Anschauliche Abbildungen wären aber oft nötig gewesen, um die beschriebenen Prozesse verständlich zu machen, zum Beispiel den typischen Lebenszyklus eines Retrovirus.

Wer Viren bislang nur als Krankheitserreger kannte, gewinnt in diesem Buch mit etwas Geduld manch neue Einsicht. Allerdings muss er sich das hart erarbeiten und viele Zusammenhänge selbst erschließen.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 3/2011

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