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Die theoretische Physik – kompletter Blödsinn?

Dieses Buch ist in einem renommierten, seriösen Verlag erschienen. Man muss das betonen, denn was Alexander Unzicker, studierter Physiker und Gymnasiallehrer in München, in Richtung moderner theoretischer Physik an Verbalinjurien abfeuert, will auch von Freunden klarer Worte erst mal verkraftet werden. Da werde "viel Lächerliches unter dem Namen der Physik" feilgeboten, die sich in "abstrusen Konstrukten verloren" habe und "wirres Zeug über Phantasie-Universen" erzähle. Es sei beispielsweise albern anzunehmen, dass die Stringtheorie, deren Geltungsbereich noch unterhalb der Planck-Länge von 10–35 Meter liegt, jemals experimentell überprüft werden kann. Die Konstruktion der Planck- Länge selbst sei möglicherweise "kompletter Blödsinn", da sie auf der Gravitationskonstanten aufbaue, an der "etwas faul" sei.

Und so geht es weiter: Der "Large Hadron Collider" in Genf könne sich als letztlich nutzloses Großspielzeug erweisen – so wie sich schon jetzt herausgestellt habe, dass die Theorie der kosmischen Inflation und die Stringtheorie mit ihren "Extradimensionen", "Branen" und "Antibranen" in höherdimensionalen Räumen nichts weiter seien als "Geschwätz" jenseits aller experimentellen Überprüfbarkeit. Ihren Vertretern, diesen "Karrieretypen", die an "Realitätsverlust" und "Wahnvorstellungen" litten, solle man am besten einen Arzt schicken, weil bei ihnen "alle Sicherungen durchgeknallt" seien.

Und so geht das noch 300 Seiten weiter! Ist da vielleicht eher der Autor durchgeknallt als die Opfer seines Verbalfurors? Nein. Das frech, ja giftig formulierte Buch hat das Lektorat ganz zu Recht ohne inhaltliche Beanstandung passiert. Was Unzicker schreibt, hat Hand und Fuß, ist fundiert, informiert und zeugt von großer Belesenheit. Auf Unzickers Negativliste ganz oben steht die Stringtheorie, genauer: ihre inzwischen 101 500 Versionen. (Unzicker verwendet diese absurd hohe Zahl an Stelle der üblichen, geringfügig weniger absurden 10 500.) Seit 30 Jahren erzählten uns die Stringtheoretiker, dass sie kurz vor dem Durchbruch seien und, wenn nicht gleich die Weltformel, so doch einen fundamentalen Beitrag zu einer quantenfeldtheoretischen Erklärung der Gravitation leisten könnten. Nur fehlt, so Unzicker, bis heute jede experimentelle Bestätigung auch nur einer der Hypothesen der Theorie, die immerhin 101 500 Möglichkeiten hat, irgendetwas, was auch immer, vorherzusagen. Da der Gültigkeitsbereich der Theorie, wie gesagt, im Bereich der Planck-Länge liegt, sei Schönheit – hier der männlichen Paradiesvögel – ist objektiv, wenn sich die weiblichen Paradiesvögel darüber einig sind. auch nicht zu befürchten, dass sich an dieser Situation in absehbarer Zeit etwas ändere.

Ebenso frei von jedem empirisch-experimentellen Nachweis ist nach Unzicker die ominöse Dunkle Materie: "Seit 75 Jahren sucht man erfolglos nach der Dunklen Materie [...] und hat infolgedessen nicht die geringste Ahnung, woraus sie bestehen könnte. Aber trotzdem fangen wir an, sie in Untersorten zu klassifizieren." Analoges gelte für die Dunkle Energie, die "1998 eingeführt "wurde, weil man sich das, was man beobachtete, anders nicht mehr erklären konnte. "Einführen" ist übrigens eine nette Untertreibung; immerhin verzwanzigfacht sich dadurch der Energie- und Materiegehalt des Weltalls.

Die Einführung von immer mehr und immer abstruseren Parametern, die durch kein Naturgesetz fundiert und durch kein Experiment bestätigt sind, in weiten Teilen der theoretischen Physik gleiche mehr und mehr dem Anhäufen von Epizyklen im ptolemäischen geozentrischen Weltbild. Und das treffe nicht nur beim Standardmodell der Kosmologie, sondern auch bei dem der Teilchenphysik zu. Dort sei man sogar gerade dabei, nicht nur ein, zwei neue freie Parameter einzuführen, sondern in Gestalt der Theorie der "Supersymmetrie" den Satz der bereits vorhandenen freien Parameter der Teilchenphysik glatt zu verdoppeln.

Was Unzicker als (halbwegs) gesichert erachtet, ist der Kern der klassischen Physik, die klassische Quantenmechanik und -elektrodynamik sowie die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (SRT und ART). Er glaubt jedoch, dass die Naturgesetze von der "kosmologischen Evolution" nicht ausgenommen sind – und damit die Gravitationskonstante auch nicht. Das ist auch meine Überzeugung. Alles andere würde einen platonischen Naturgesetzeshimmel voraussetzen, der schon immer und ewig existierte und existieren wird.

Nur Einsteins SRT und ART nimmt Unzicker von dieser Wandelbarkeit zunächst aus. Kritiker der Relativitätstheorie fertigt er in der ihm eigenen charmanten Art ab: "Einstein ist nun mal eine Ikone [...], die fast magisch pinkelnde Hunde anzieht."

Plötzlich lesen wir aber doch von einem Problem: "Heute nennt man es Flachheitsproblem, da der merkwürdige Grenzfall in der allgemeinen Relativitätstheorie durch das Verschwinden einer raumzeitlichen Krümmung beschrieben wird." Indem die ART auf der riemannschen Differenzialgeometrie aufbaut, verkörpert sie ein modelltheoretisches Vorurteil zu Gunsten einer gekrümmten Raumzeit. Je nachdem, welche konkreten Werte (etwa der Materiedichte des Weltalls) man einsetzt, ergeben die Feldgleichungen der ART Lösungen mit den unterschiedlichsten Krümmungen der Raumzeit. Nun hat sich die Natur, wie die Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung ergeben hat, aber ausgerechnet für ein brettflaches Universum entschieden. Interessant!

Wir lesen weiter: "Wenn nach dem Äquivalenzprinzip aber Schwerefeld und Beschleunigung gleich zu behandeln sind, dann müssten in einem Gravitationsfeld ruhende Ladungen 'einfach so' Energie abstrahlen – ein nicht ganz geklärtes Problem." In der Tat.

Schließlich lesen wir: "Einsteins Relativitätstheorie (beruht) gerade darauf, dass man mit keinem Experiment … unterscheiden kann, ob man ›ruht‹ oder sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit bewegt. Seit Kurzem gibt es dieses Experiment doch. Die Signale des Mikrowellenhintergrunds sagen ganz klar, dass wir nicht ruhen, sondern uns mit 370 Kilometern pro Sekunde in Richtung des Sternbilds Becher bewegen … Fakt ist, dass der kosmische Mikrowellenhintergrund ein absolutes Bezugssystem definiert." Ist Unzicker klar, was er da geschrieben hat? Ob Einstein je seine SRT und ART ausformuliert hätte, wäre damals ein "Äther" namens kosmische Hintergrundstrahlung als absolutes Bezugssystem bekannt gewesen?

Das Buch ist eine intelligent ausformulierte Provokation, die man gelesen haben sollte. Es tut regelrecht gut, von einem Physiker die massiven Zweifel bestätigt zu bekommen, die wohl jeden kritischen, dem erkenntnistheoretischen Realismus und Physikalismus verpflichteten Geist befallen, wenn er die hier thematisierten Entwicklungen der theoretischen Physik betrachtet. Diese Zweifel ergeben sich auch aus meiner distanzierten, von der Sprach- und Naturphilosophie geprägten, aber, mit Verlaub, naturwissenschaftlich wohl informierten Perspektive. Fast alles, was Unzicker ganz zu Recht kritisiert, ist meines Erachtens nackte Metaphysik in des Wortes direkter Bedeutung.

Aber auch etwas Unbehagen bleibt nach der Lektüre zurück. Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, etwas mehr zu erfahren zu den drei genannten Problemen der ART. Und unbefriedigend ist auch, dass Unzicker Einstein zunächst expressis verbis zur "Ikone" stilisiert und SRT wie ART für sakrosankt erklärt – und damit dem grundlegenden wissenschaftlichen Falsifikationsprinzip enthebt. Einstein, diesem kritischen Geist, wären darob ganz sicher die Haare noch mehr zu Berge gestanden als so und so schon. Und womöglich hätte er dem Unzicker für diese Zicke sogar die Zunge herausgestreckt.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2010

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