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Risiken und Nebenwirkungen

In den 1970er Jahren gab es in Kanada noch abgelegene Gegenden, in denen man kein Fernsehen empfangen konnte. Für die Medienwirkungsforschung boten diese "Täler der Ahnungslosen" ungewöhnliche Möglichkeiten und auch ein Team um den Sozialpsychologen Tannis MacBeth Williams machte sich auf den Weg dorthin.

Die Wissenschaftler pickten sich drei Gemeinden heraus, die ähnliche kulturelle und sozioökonomische Eigenschaften aufwiesen. Bei den Bewohnern des ersten Dorfs hatte die Flimmerkiste aber erst vor kurzem Einzug gehalten, in der zweiten vor sieben Jahren und in der dritten Gemeinde vor noch längerer Zeit. Die Forscher zeigten, dass es in dem ersten Städtchen zwei Jahre nach Einführung des Fernsehens dreimal mehr Vorfälle mit aggressiven und gewalttätigen Kindern und Jugendlichen gegeben hatte als zuvor.

In den 1980er Jahren wiesen die Psychologen Armin Schmidtke und Heinz Häfner auf einen ähnlichen Zusammenhang in Deutschland hin. Die beiden Forscher untersuchten Nachahmungseffekte anhand der ZDF-Serie "Tod eines Schülers", in der ein Jugendlicher Selbstmord begeht, indem er sich vor einen Zug wirft. Schmidtke und Häfner analysierten nun Eisenbahn-Suizide im Zeitraum von 1976 bis 1984. Das Ergebnis: Diese Quote war bei Männern in der betreffenden Altersgruppe um rund 170 Prozent angestiegen. Dass die Filmszenen nur ohnehin gefährdete Menschen bestärkt haben, schlossen die Forscher aus: In der Folgezeit verzeichnete man keinen Rückgang der Eisenbahn-Selbstmorde und andere Tötungsarten wurden nicht seltener gewählt.

Einige Wissenschaftler schließen auf Grund solcher Studien auf die Wirkung medialer Gewalt. So ist der Amerikaner Brandon Centerwall der Ansicht, dass es allein in den USA jährlich 10 000 Morde, 70 000 Vergewaltigungen und 700 000 Gewaltdelikte weniger geben würde, wären das Fernsehen und verwandte elektronische Bildschirmmedien nie erfunden worden. Manfred Spitzer, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie in Ulm, gibt ihm hier Recht. Der Deutsche kommt bei der Analyse neuester wissenschaftlicher Studien zu dem Ergebnis, dass es verheerende Folgen haben kann, wenn Kinder mehr und mehr Zeit vor den Bildschirmen von Fernsehern, Computern und Videospielgeräten verbringen.

Je früher und je länger die elektronischen Medien genutzt würden, erklärt Spitzer in seinem Buch "Vorsicht, Bildschirm!", desto größer sei auch die Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, an Diabetes zu erkranken oder an einem Schlaganfall, Herzinfarkt oder Lungenkrebs zu sterben. Gleichzeitig entdeckt Spitzer einen Zusammenhang zwischen Gewalttätigkeit, schweren Lernstörungen und der Wahrscheinlichkeit, zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden oder sich mit Depressionen und irrationalen Ängsten herumplagen zu müssen.

Spitzers Erklärungen sind monokausal, stützen sich aber auf viele empirische Befunde und jüngste Erkenntnisse der Hirnforschung. Eines der provokativsten Bücher der letzten Zeit – und ein großer Wurf.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 10/2005

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