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Schöner als biologisch erforderlich

Dass beim Vogelgesang die Ästhetik eine weitaus größere Rolle spielt, als es evolutionstheoretische Nützlichkeitserwägungen nahelegen, ist oftmals thematisiert worden. Bereits Charles Darwin (1809 – 1882) stellte in seinem epochalen Werk "Die Abstammung des Menschen" fest, dass Vögel "einen Geschmack für Schönes" haben. Julian Huxley (1887 – 1975) war davon überzeugt, dass die Gesänge alles andere als "rein funktional" sind. Wenn also David Rothenberg, Professor für Philosophie am New Jersey Institute of Technology in Newark, Vogelgesang sogar als "Musik" bezeichnet und eine gemeinsame "Ursache für Schönheit" bei Vogel und Mensch vermutet, kann er sich auf illustre Vorbilder berufen.

Rothenberg will bei seiner "musikalischen Spurensuche" die "Kluft zwischen Empirie und Ästhetik" interdisziplinär überbrücken. Erst wenn wir die Laute der Vogelwelt als Musik, als Kunst auffassen, so Rothenberg, gewinnen wir auch einen Zugang zu den Geheimnissen des Vogelgesangs. Zur Revierverteidigung oder zur Anlockung eines Sexualpartners genügt es, zu krächzen wie ein Rabe oder zu tschilpen wie ein Spatz. Insofern ist das, was uns etwa europäische Nachtigallen, amerikanische Spottdrosseln oder australische Leierschwänze gesanglich darbieten, ungleich bedeutender als die damit verbundene Funktion.

Auch der große amerikanische Ornithologe Wallace Craig (1876 – 1954), den immerhin Konrad Lorenz als seinen "einflussreichsten Lehrer" bezeichnete, sah keine biologische Notwendigkeit für musikalische Komplexität und Schönheit. In einem Brief an Craig aus dem Jahr 1940 bekräftigt Lorenz: Der Vogelgesang "ist sicherlich schöner als nötig und ähnelt in dieser Hinsicht der menschlichen Kunst im Allgemeinen". Aus "evolutionistischer" Sicht, so Lorenz weiter, sei es sogar "eher lächerlich", die Möglichkeit zu bestreiten, dass es etwas Ähnliches wie Kunst nicht auch bei anderen Arten geben könne.

Heutzutage macht sich wohl eher lächerlich, wer Musik und Vogelgesang gleichermaßen als "organisierte Klänge um ihrer selbst willen" betrachtet. Und für streng wissenschaftliche Vogelkundler sind Kapitelüberschriften wie "Du lässt mein Herz singen", "Den Klang in sich aufnehmen" oder "Zum Vogel werden" eine herbe Zumutung. Doch es lohnt, sich auf diesen eigenwilligen Autor einzulassen. Dass Rothenberg im Vogelpark von Pittsburgh einen Weißhaubenhäherling auf seiner Klarinette begleitet oder sich im australischen Busch mit einem Braunrücken-Leierschwanz zur Jam-Session verabredet, macht ihn noch nicht zum esoterischen Schwärmer. Freimütig gesteht der passionierte Jazzer ein, dass es viel einfacher sei, zusammen mit Vögeln zu musizieren, als streng wissenschaftliche Forschung zu betreiben.

Sobald es um die Frage "Warum Vögel singen" (und nicht nur "wie" oder "wozu") geht, sind die Aussagen von Musikern, Dichtern und Denkern ebenso relevant wie die der Wissenschaftler. Nur die Poesie, so Rothenberg, kann die Schönheit des Vogelgesangs in Worte fassen. Nur die Musik erklärt, wie sich über eine "Abfolge von Tönen ohne Botschaft" dennoch so etwas wie Schönheit vermitteln lässt. Die Wissenschaft kommt erst ins Spiel, wenn es um objektive und unangreifbare Aussagen geht. Über all diese Erkenntnisse in der Zusammenschau zu reflektieren, ist wiederum Aufgabe der Philosophen.

Das interdisziplinäre Spektrum dieses außergewöhnlichen Vogelbuchs reicht in der Philosophie von Aristoteles über John Locke und Immanuel Kant bis Ludwig Wittgenstein, in der Poesie von Lukrez über Samuel Taylor Coleridge und John Keats bis Kurt Schwitters und in der Musik von Vivaldi über Mozart und Beethoven bis Olivier Messiaen. Dennoch nimmt die Darstellung wissenschaftlicher Befunde den größten Raum ein, sowohl in der Textlänge als auch in der Anzahl der Abbildungen und Anmerkungen. Beinahe jeden, der Rang und Namen in der modernen Vogelgesangsforschung hat, hat Rothenberg persönlich konsultiert – und ist dabei stets auf ebenso freundliches Interesse wie nachhaltige Skepsis gestoßen.

Zwar halten auch renommierte Ornithologen wie Peter Slater, Donald Kroodsma und Peter Marler komplexe Vogelgesänge für ein Rätsel. Aber einen Bezug zur menschlichen Ästhetik erkennen sie nicht. Fernando Nottebohm erklärt denn "diesen ganzen Musikansatz" unmissverständlich für "wirklich Wahnsinn". Doch Kunst, so Rothenberg, benötige nun einmal keine Daten. Sie kann auch nicht durch "eine Analyse ihrer Aussagekraft" ersetzt werden – selbst wenn sie in Millionen Jahren auf natürlichem Weg entstanden sei. Ebenso wenig könne man doch das Gesangssystem im Gehirn eines Kanarienvogels als Ersatz für den Gesang nehmen. Die Wissenschaft ist – sobald es um das "Warum" geht – genau wie die Kunst "reich an Hypothesen, aber arm an Schlussfolgerungen ".

Musik, so das Kredo dieses höchst bemerkenswerten und anspruchsvollen Buchs, ist genauso Ausdruck für das Wesen eines Vogels wie für unser eigenes. Die Menschheit jedoch wird im Gegensatz zu den Vögeln – die ja bereits seit Jahrmillionen musizieren – "nie die richtige Melodie treffen". Denn unsere Musik unterliegt dem Wandel der Kultur. Es ist jedenfalls eine "engstirnige" Auffassung von Musik, nur den Menschen einzubeziehen. Und dass die Wissenschaft noch nicht in der Lage ist, "Freude" zu messen, bedeutet ja nicht, dass Vögeln das Singen keinen "Spaß" mache. Doch eben diese Freude am eigenen Können ist vielleicht die bedeutsamste Gemeinsamkeit von Vogel und Mensch.

Beweise kann Rothenberg nicht vorlegen. Sein Buch handelt von den "Möglichkeiten" einer gut begründeten Spekulation. Allerdings nimmt er mit größter Genugtuung den Nachweis von Erich Jarvis zur Kenntnis, dass sich im Zebrafinkenhirn beim Singen der Dopaminspiegel erhöht; diesem Neurotransmitter wird eine gewisse Rolle im Belohnungssystem zugeschrieben. Doch die Frage "Warum singen Vögel?" ist für ihn ohnehin "subjektiv" längst geklärt: "Aus den gleichen Gründen wie wir – weil wir es können."

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2008

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