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Würmer als Freunde und Helfer

Es fällt kaum jemanden auf: Wenn wir über Infektionskrankheiten sprechen, nutzen wir permanent militärische Begriffe. Wir kämpfen gegen pathogene Mikroorganismen, betrachten Viren als Feinde der Menschheit, benutzen Medikamente als Waffen und allerlei giftige Putzmittel zur Ausrottung der ungeliebten Biester. Eine besonders aggressive Variante der weißen Blutkörperchen heißt Killerzelle, und Immunzellen werden gemeinhin als die Schnelle Eingreiftruppe des Körpers bezeichnet. Da passt es ins Bild, dass der Gesundheitsminister der USA Surgeon General heißt.

Der größte Reichtum des Menschen ist seine Gesundheit, sagen der Volksmund und die Philosophen. Daraus lässt sich eigentlich nur eines ableiten: Ohne Krankheit wäre das Leben ein Paradies auf Erden, und Mikroben hindern uns daran, diesen idealen Zustand zu erreichen.

Doch was wäre, wenn Infektionen gar nicht unser Feind wären, sondern einfach eine Kraft, mit der wir zu leben lernen können wie mit der Schwerkraft? Was würde sich ändern, wenn wir Erreger nicht als Feinde, sondern einfach als Familienmitglieder betrachteten? Wir haben sie uns nicht ausgesucht, aber unser Leben ist ohne sie nicht vorstellbar. Wir hätten nicht nur ein neues Denkmodell zum Umgang mit krank machenden Mikroorganismen, sondern würden vermutlich auch neue therapeutische Ansatzpunkte entdecken, die bislang von der Forschung vernachlässigt wurden.

Marlene Zuk, Evolutionsbiologin an der University of California in Riverside, hält einen solchen Paradigmenwechsel für längst überfällig. Infektionskrankheiten gab es schon immer, sagt die Professorin und belegt dies mit einer Fülle gut zusammengefasster wissenschaftlicher Fachliteratur. Es wird sie auch immer geben. Sie sind normal, natürlich und – das ist das Neue an der These – für unser kollektives Wohlbefinden sogar unerlässlich.

Krankheitserreger sind selbst Lebewesen und unterliegen deshalb den Gesetzen der Evolution. Ihr Schicksal ist durch Koevolution eng mit unserem verwoben. Insbesondere haben sie auch uns geformt, seit unsere Vorfahren vor rund drei Millionen Jahren von den Bäumen kletterten. In einem komplexen Ökosystem entwickeln sich Lebewesen stets gemeinsam; "Kosten" und "Nutzen" sind also für die beteiligten Spezies nicht prädeterminiert, sondern entwickeln sich auf Populationsebene in einem dynamischen Gleichgewicht.

In Bezug auf Krankheitserreger ermöglicht dieser Denkansatz neue Einsichten in altbekannte Probleme. So stehen Asthma und Allergien – heutzutage in jedem Kindergarten die häufigsten Krankheiten – offensichtlich in einer positiven Korrelation zur Intensität von Körper- und Haushaltshygiene. Dagegen sinkt die Wahrscheinlichkeit, an Heuschnupfen oder Neurodermitis zu erkranken, je häufiger Kleinkinder mit Bakterien und Viren in Kontakt kommen, sei es durch Geschwister, Haustiere oder Dreck.

Der Befehl einer Mutter an ihr Kind "lass das liegen, wer weiß, wer das schon alles angefasst hat" begünstigt also die Entstehung von Allergien und richtet damit vermutlich mehr Schaden als Nutzen an. Wie Hygiene und Überempfindlichkeitsreaktionen auf zellulärer Ebene zusammenhängen, ist mittlerweile gut untersucht und wird von Zuk im Abschnitt "Die wohltemperierte T-Zelle" klar beschrieben.

Auch entzündliche Darmerkrankungen wie der Morbus Crohn sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass dem Immunsystem mangels Kontakt mit Umweltkeimen in der Kindheit die Balance abhanden gekommen ist. In logischer Konsequenz behandelt Joel Weinstock, Professor am renommierten Tufts New England Medical Center in Boston, Patienten mit Morbus Crohn mit lebenden Eiern des Peitschenwurms vom Schwein. Die sollen das Immunsystem des Patienten in die richtige Bahn lenken. Der Gastroenterologe hat Erfolg mit seiner unkonventionellen Methode: Bei fast drei Viertel seiner Patienten verschwinden die Symptome der Darmentzündung, wenn diese ihren Ekel überwinden und alle drei Wochen eine Minidosis der ungefährlichen Parasiten- Eier schlucken.

Die in unzähligen Generationen von Parasiten und Wirten entstandenen biologischen Interpendenzen sind nicht nur für Infektionskrankheiten, sondern auch für eine Vielzahl unterschiedlicher Gesundheitsstörungen relevant. Das belegt die Autorin an zahlreichen wissenschaftlich gut dokumentierten Beispielen. Ob Stoffwechselstörung, Partnerfindungsprobleme oder Erkrankung des Zentralnervensystems, Koevolution, so Zuk, scheint überall eine Rolle zu spielen.

Die Evolutionsbiologin hat nicht nur einen scharfen Verstand, sie kann auch gut schreiben. So wenig Fachtermini wie möglich, Verzicht auf technische Details und eine klare Sprache machen das Buch zu einer unterhaltsamen Abendlektüre. Wer die elf Themenkomplexe vertiefen will, findet zu jedem Kapitel 30 bis 50 Verweise auf entsprechende Fachliteratur. Chapeau, Madame Zuk.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2009

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