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Kranksein nur zum Schein

Die "wohltuenden" Aspekte einer Krankheit sind allgemein bekannt: Zuwendung, Aufmerksamkeit, Mitleid, Pflege. Es gibt Menschen, die dafür in geradezu schauspielerischer Meisterleistung den Kranken darstellen. Zuweilen ist es auch ein Elternteil, der die Erkrankung seines Kindes vortäuscht. Durch aufopfernde Pflege erhofft der Elternteil, das Mitgefühl anderer zu wecken oder sogar einen Zugewinn an Macht gegenüber dem Kind zu erhalten. Um eine Krankheit wirklichkeitsnah vorzutäuschen, verletzen einige sogar den eigenen Körper – teilweise in einer so rücksichtslosen Weise, dass sie daran sterben.

Was mussten Menschen erleben, dass eine simulierte Krankheit für sie zum Ausweg wird? Der amerikanische Psychiater Marc Feldman geht dieser Frage nach. Sein Buch "Wenn Menschen krank spielen" richtet sich in erster Linie an den interessierten Laien. Es kann Betroffenen helfen, ihr eigenes Leid oder das eines anderen besser wahrzunehmen. Aber auch für Ärzte kann das Buch nützlich sein, weil sie mit seiner Hilfe Krankheitssymptome besser erkennen lernen.

Feldman schildert zahlreiche Fallbeispiele, durch die der Leser die Symptome der vier Störungsbilder Simulation, artifizielle Störungen, Münchhausen-Syndrom und Münchhausen-by-proxy-Syndrom – also Eltern, die ihr Kind als krank darstellen – kennen und erkennen lernt. Immer wieder finden sich in den Patientengeschichten wichtige Hinweise, mit deren Hilfe man "echte" von "falschen" Patienten unterscheiden lernt und die tatsächlichen Probleme hinter der Mauer aus Erfindung und Manipulation aufdeckt und behandelt.

Die Fallbeispiele sind auf tatsächliche Lebensschicksale zurückzuführen, und Feldman erhält die individuellen Sprechweisen der Patienten bei der Erzählung ihrer Geschichten. Die klar verständliche und einfache Berichterstattung, in der Gefühle kaum zum Ausdruck gebracht werden, löst Betroffenheit, zum Teil auch Abwehrreaktion, aus. Was soll der Leser von einer Mutter halten, die nahezu emotionslos darüber berichtet, ihren Sohn mit einer Überdosis eines Blutdruckmittels getötet zu haben? Die an einigen Stellen unsachliche Ausdrucksweise Feldmans erhöht zusätzlich die Gefahr, Ablehnung hervorzurufen. Kann man einem Kranken, der den "Irren spielt", Verständnis entgegenbringen?

Aber offenbar ist die simulierte Krankheit sowieso nur in sehr begrenztem Maße verstehbar. Wie Feldman feststellt, ist es nach derzeitigem Forschungsstand kaum möglich, das Verhalten eines Erkrankten genauer erklären zu können. Da bisher nur wenig auf dem Gebiet geforscht worden ist, fehlen klare Erkenntnisse. Und weil die hintergründigen nicht existieren, kann auch Feldman nur oberflächliche Erklärungen geben. Außer dem altbekannten "Krankheitsgewinn", den ein Mensch durch sein Leiden bekommen kann – emotionale Zuwendung, Mitgefühl, Beachtung – hat die Forschung offensichtlich noch nicht viel über das Münchhausen-Syndrom herausgefunden.

Die Konsequenz: In Feldmans Buch sind zahlreiche Fallbeispiele aneinandergereiht, denen nur wenige Erklärungen hinzufügt sind. Da es kein Hintergrundgerüst gibt, mangelt es dem Buch an einer klaren Strukturierung.

Trotz dieser Kritikpunkte ist das Buch interessant und wichtig, weil es für Krankheitsbilder sensibilisiert, denen bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Relativ leicht abschätzbar ist ihre Bedeutung in ökonomischer Hinsicht: So geht man davon aus, dass allein in den USA jährlich zehn bis zwanzig Milliarden Dollar für sinnlose medizinische Maßnahmen ausgegeben werden.

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