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Frage ohne Antwort

Lange vor der weltweiten Vernetzung träumte der Künstler James Lee Bryan davon, 100 brillante Denker an einen Tisch zu bringen, um durch deren Dialog ein befriedigendes Niveau von Wissen zu erreichen. Doch die Zeit war offenbar noch nicht reif für sein ambitioniertes Kunstexperiment. Als Bryan zum Telefonhörer griff, um den Auserwählten seine Idee vom Weltfragenzentrum zu unterbreiten, hängten 70 von Ihnen wieder ein. Fast zwei Jahrzehnte später griff der Literaturagent John Brockman Bryans gescheitertes Vorhaben wieder auf und gründete den Reality Club, der 1997 unter dem Namen Edge online ging. Das Projekt, ein Internetmagazin, kümmert sich um die Verbreitung und Diskussion spekulativer Ideen am Rande des menschlichen Wissens. Alljährlich stellt Brockman im virtuellen Salon eine Frage zur Debatte. 2010 wollte er von Wissenschaftlern, Künstlern und anderen Eliteköpfen wissen: "Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?". Ein Potpourri von 154 Texten, die Brockman daraufhin erhielt, findet man in dem gleichnamigen Taschenbuch. Wer sich allerdings diese 537 Seiten starke Ausgabe vornimmt, um eine konkrete Antwort zu finden, wird enttäuscht. Warum? Das erklärt der Experimentalfilmemacher, Musiker und Komponist Tony Conrad dem ausdauernden Leser nach knapp 450 Seiten Lektüre: "Die Edge-Frage ist eine Frage ohne Antwort". Nur eine Handvoll weiterer Autoren beweist – allerdings stets mir Vorbehalt – Mut zur Lücke. Einer, dieser nicht ganz Furchtlosen, ist der unabhängige Forscher, Autor und Zeichner Gregory Paul. Er antwortet erfrischend ehrlich: "Verflixt, wenn ich das nur wüsste", um anschließend seitenweise über sein digitales Dasein zu fabulieren. Und damit ist er leider nicht allein ist. Mantraartig referiert das Gros der Befragten über Vor- und Nachteile des Mediums Internet, etwa bei der arbeitsrelevanten Recherche. Überraschend viele Denker übergehen die Frage nach dem "Wie" und antworten zunächst mit einem "Ja", "Nein" oder "Vielleicht". Was man als glatte Themaverfehlung auslegen könnte, wird hier als legitimes Philosophieren hingenommen. "Die Beantwortung dieser Frage sollte eine todsichere Sache sein, nicht wahr? ", findet auch der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi und gesteht immerhin, ratlos zu sein. Der Physiker Frank Wilczek erklärt hingegen frech, dass es für ihn zu schwer sei, die Edge-Frage 2010 auf interessante Weise zu beantworten, deswegen formuliert er kurzerhand eine andere, die er dann erörtert. Hat man als Leser schließlich jegliche Erwartungen abgelegt, stößt man auf amüsante Schmankerl. So vergleicht die Forscherin Judith Rich Herris das Internet mit einer Ketchup-Flasche voller Informationen und der Künstler Ai Weiwei findet, dass er erst anfängt zu denken, wenn er im Netz ist – ansonsten, denke er nicht besonders viel. Daniel L. Everett, Dekan der Fakultät für Künste und Wissenschaften an der Bentley University in Waltham in Massachusetts, erzählt von seiner Zeit im brasilianischen Amazonasgebiet, Marc D. Hauser, Psychologe und Biologe an der Harvard University, gibt eine Anekdote zu einem kenianischen Ritual zum Besten und ChrisDiBona, der für Google arbeitet, verrät 24 skurrile Suchanfragen, die er für seine 3seitige Antwort vornahm. Auch diese erfreulichen Ausnahmen täuschen nicht darüber hinweg, dass das Vergnügen beim chronologischen Lesen dieses Buch hart erarbeitet sein will. Wer das Textsammelsurium als Experiment begreift, um lediglich stellenweise darin zu stöbern, sei es jedoch wärmstens empfohlen.

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