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Überall und nirgends

Für Immanuel Kant war die Erde schon im 18. Jahrhundert eine einzige Globalisierungsfalle – weil die Menschen auf ihrer "Kugelfläche sich nicht ins Unendliche zerstreuen, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen". Die Falle ist längst zu unserer Heimat geworden. Immer machtvoller dringt das Globale in die Lebenswelt jedes Einzelnen. Atombomben erreichen jeden Punkt der Erde, Terroristen operieren weltweit, Viruskrankheiten wie Aids verbreiten sich rund um den Planeten.

Rüdiger Safranski – Schriftsteller, Philosoph und als Gastgeber des "Philosophischen Quartetts" neben Peter Sloterdijk mittlerweile auch der Fernsehöffentlichkeit bekannt – hat seinen 100-Seiten-Essay für jene geschrieben, die im wuchernden Dickicht der globalen Zivilisation ihren Weg aus den Augen zu verlieren fürchten. Was bleibt uns, wenn wir tagtäglich mit Schreckensmeldungen über Kriege, Hungersnöte und Umweltkatastrophen konfrontiert werden? Wenn politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen scheinbar immer dramatischere Züge annehmen?

Als Individuen sind wir längst überfordert. Unser Wahrnehmungskreis ist dank der Informationstechnologie zwar auf den gesamten Globus ausgedehnt, doch unser Handlungsspielraum bleibt auf das Lokale begrenzt. Den immer vielfältigeren Alarmsignalen können wir kaum noch angemessene Taten entgegensetzen. Der globale Problemhorizont drängt sich selbst dem alltäglichen Bewusstsein auf, weil Veränderungen in der unmittelbaren Nähe meist auch das letzte Glied in einer Verursachungskette sind, deren Ursprung ins globale Netz zurückreicht.

Unser Unbehagen an der Globalisierung ist nicht neu. Safranski sieht es in der Tradition der von Jean-Jacques Rousseau begründeten modernen Kulturkritik. Schon der französische Aufklärer beklagt die Krise zwischen Gesellschaft und Individuum. Anders als Karl Marx, mit dem Safranski ihn kontrastiert, sucht Rousseau die Befreiung im Innern. Dem seelenlosen Mechanismus der Gesellschaft, die den Menschen verstümmelt und in Unwahrheit versinken lässt, setzt er die Lust am Innenleben entgegen – am "wahren" Leben, wie er es sah. Marx vertraute dagegen auf das Außen, darauf nämlich, dass erst eine Veränderung der Gesellschaft die Menschheit ans Ende des dunklen Tunnels der Geschichte führt. Doch seine Vision scheiterte bekanntermaßen. Und auch Rousseaus Ansatz wurde totalitär gewendet. Notwendigerweise, wie Safranski meint: Wer das Wahre allein in sich selbst findet, kann die Wahrheiten der anderen nicht mehr respektieren.

Der solchermaßen ins Extreme abgleitenden Suche nach der Position des Individuums in der Gesellschaft setzt Safranski einen individualistischen Ansatz entgegen. Wie bedrohlich die Globalisierung häufig auch erscheinen mag, aus eigener Kraft und zum eigenen Wohl kann sich der Einzelne eine Schneise ins Dickicht schlagen, die Zivilisation auf Abstand halten, sich seinen eigenen Lebens- und Handlungsspielraum schaffen. Den Anforderungen der modernen Gesellschaft hält nur stand, wer angesichts der Vereinnahmung durch das Globale seine Individualität bewahrt und den sich überschlagenden Ereignissen das eigene Tempo entgegensetzt.

Doch letztlich lässt Safranski unzufriedene Leser zurück. Sollen sie die Welt tatsächlich nur insoweit an sich herankommen lassen, als sie ihnen zumutbar erscheint? Wünschenswert wäre etwas anderes: die Überforderung als Herausforderung anzunehmen und so der Welt entschlossen und handlungsfähig gegenüberzutreten.
  • Quellen
Gehirn & Geist 5/2003

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