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Kleine Schritte gegen den Hunger

Im Jahr 2009 wurden weltweit über 2,5 Milliarden Tonnen Getreide geerntet. Das macht für jeden der sieben Milliarden Erdbewohner ziemlich genau ein Kilogramm pro Tag. An der schieren Menge liegt es also nicht, dass etwa eine Milliarde Menschen Hunger leiden, und das mit steigender Tendenz.

Über die Hälfte aller Nahrungsmittel kommt gar nicht bis zum Endverbraucher. Ein Großteil der Produktion wird als Futtermittel genutzt (35 Prozent weltweit, in Deutschland sogar 62 Prozent). Manches verarbeitet die Industrie, zum Beispiel zu Biokraftstoff. Und vieles landet im Müll statt auf dem Teller – je nach Art des Lebensmittels bis zu 75 Prozent der gesamten Produktion.

Eine naheliegende Lösung des Hungerproblems sah man lange darin, die Menge der produzierten Nahrungsmittel zu erhöhen. Genau das haben wir in den letzten Jahrzehnten getan, allerdings ohne darauf zu achten, ob der Anbau nachhaltig ist oder unsere Konsumgewohnheiten fair sind. Aber unter den Bedingungen des Klimawandels werden die bisherigen Bemühungen mit dem Wachstum der Weltbevölkerung nicht Schritt halten. Um im Jahr 2050 etwa neun Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren, müssen heute die Weichen gestellt werden, meinen die Herausgeber.

Aus Spektrum der Wissenschaft 04/2012
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Der Bericht "Zur Lage der Welt", den die internationale, in Washington ansässige Forschungsorganisation Worldwatch Institute jedes Jahr herausbringt, konzentriert sich 2011 auf Afrika, weil dort einerseits ein großer Teil der Bevölkerung Hunger leidet, andererseits viele Projekte zeigen, wie nachhaltige Entwicklung in der Landwirtschaft aussehen kann. Die deutsche Version, an der das Entwicklungspolitikinstitut Germanwatch und die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung beteiligt waren, enthält Ergänzungen und Informationen speziell zu Deutschland und der Europäischen Union.

Über 30 Autoren, allesamt in Hilfsorganisationen oder Stiftungen beschäftigt, liefern eine detaillierte Analyse der Weltagrarpolitik und ihrer Folgen. Gerade das Kapitel von Christine Chemnitz (Heinrich-Böll-Stiftung) und Tobias Reichert (Germanwatch) macht deutlich, wie entscheidend sich die EU-Agrarpolitik auf den internationalen Markt auswirkt: Dadurch, dass die EU ihre teuren Produkte durch Subventionen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig macht, sinken dort die Preise immer weiter. Und ganz abgesehen davon, dass diese Maßnahmen so, wie sie ausgestaltet sind, die großen Betriebe gegenüber den kleinen bevorzugen, treffen sie gerade Afrika besonders hart. Dort nämlich werden landwirtschaftliche Erzeugnisse häufig nicht nur nicht subventioniert, sondern sogar besteuert, mit dem Effekt, dass es billiger ist, Nahrungsmittel zu importieren, als sie im eigenen Land anzubauen. Das wiederum nimmt vor allem der ländlichen Bevölkerung in armen Regionen die Existenzgrundlage.

Schon heute ist der Agrarsektor für knapp 15 Prozent der Treibhausgase verantwortlich. Rechnet man zusätzlich zu den direkten Emissionen die Entwaldung und den Energieverbrauch, der für die Düngemittelherstellung nötig ist, kommt man sogar auf 30 Prozent. Aber gerade die Landwirtschaft leidet unter veränderten klimatischen Bedingungen, die durch Treibhausgase ausgelöst werden. Was also tun?

Hier liefern die Autoren zwar keine neuen Lösungen, doch sie zeigen, wie wir durch viele kleine Schritte die Landwirtschaft weltweit nachhaltig gestalten können. Dazu zählen Fruchtwechsel und biologische Schädlingsbekämpfung für einen gesunden, nährstoffreichen Boden ebenso wie Bäume und Sträucher am Rand der Nutzflächen, die den natürlichen Nährstoffkreislauf aufrechterhalten und gleichzeitig als Habitat für Tiere dienen. Nachdem Bauern in Malawi um ihre Felder herum Stickstoff speichernde Bäume anpflanzten, die den Boden auf natürliche Weise mit Nährstoffen anreicherten, konnten sie ohne Zusatz von anderen Düngemitteln die vierfache Maisernte einfahren.

Besonders wichtig ist es, traditionelle Anbau- und Konservierungsmethoden wiederzubeleben. Noch immer gehen in armen Ländern 25 bis 50 Prozent der Ernte allein durch schlechte Lagerung und Schädlinge verloren. Mit Hilfe neuartiger Lagersysteme konnte man in Westafrika die Kuhbohne, eine der wichtigsten regionalen Nutzpflanzen, besser vor Fäulnis schützen.

In Afrika liegt die effektive Niederschlagsmenge um 50 Prozent unter dem globalen Mittelwert. Und nur 20 Prozent davon werden zu "blauem Wasser", das als Fluss-, See- oder Grundwasser der Landwirtschaft zur Verfügung steht. Dazu kommt ungefähr einmal pro Jahrzehnt eine extreme Dürre, die gerade in ertragsschwachen Gebieten zu vollständigen Ernteausfällen führt. Auch ohne Dürre ist die Wasserbeschaffung für die Menschen in trockenen Regionen sehr belastend, vor allem für Frauen und Mädchen, die täglich mehrere Stunden damit verbringen, Wasser aus weit entfernten Gebieten zu holen.

Hier versprechen aktuelle Projekte zur besseren Versorgung und effizienteren Nutzung Abhilfe. Je nach Region bietet es sich beispielsweise an, Nebelwasser mit Netzen zu gewinnen oder Grundwasser hochzupumpen. Einfache Mittel wie Sickerschächte, Dämme oder Regenrinnen können gerade in ertragsschwachen Regionen große Fortschritte erzielen. Immerhin steigt der Ertrag einer Nutzpflanze proportional zur verfügbaren Menge an Wasser, solange dies die einzige knappe Ressource ist. Und zum besseren Timing der Bewässerung kann man den Bauern über Internet oder Telefon die aktuellen, aus Satellitenaufnahmen bestimmten Bodenfeuchtigkeitswerte mitteilen.

Es gibt viele gute Ideen für eine ertragreiche und nachhaltige Landwirtschaft der Zukunft. Das klingt schon fast nach einem Happy End; aber noch ist viel zu tun, bis die guten Ideen bei den Bauern ankommen und für sie realisierbar werden. Indem die Autoren die Fakten in Geschichten aus dem Alltag der Betroffenen einbetten, lassen sie den Leser begreifen, wo die Probleme liegen, anstatt nur abstrakte Thesen aufzulisten. Das etwas ungute Gefühl, das sich beim Lesen bisweilen einstellt, ist sicher gewollt. Gleichzeitig zeigen die Autoren aber auch in jedem Kapitel Auswege, in der Hoffnung, dass die Industrieländer, die ja die Hauptverantwortung für den Klimawandel tragen, ihre moralische Verpflichtung den ärmeren Ländern gegenüber einlösen, da diese am meisten unter den Folgen der klimatischen Veränderungen leiden.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2012

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