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Ideales Feindbild

Hunnenrede, Daily-Telegraph-Affäre, Panthersprung nach Agadir: Immer wieder stieß der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Briten vor den Kopf – um schließlich durch eine aggressive Flottenaufrüstung endgültig die Feindschaft der Seemacht England heraufzubeschwören. So jedenfalls die gängige Forschungsmeinung über Ursache und Wirkung des deutsch-englischen Gegensatzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Aufhorchen lässt aber, dass diese Sicht der Dinge in den englischen Quellen keinen Niederschlag findet, wie der Historiker Andreas Rose in seinem Buch über Englands Außenpolitik am Vorabend des Ersten Weltkriegs nachweisen konnte. Gestützt auf bislang nicht ausgewertetes Material aus englischen Archiven kann er belegen, dass, lange bevor das erste deutsche Schlachtschiff vom Stapel lief, in England bereits das Gespenst vom "bösen Deutschen" umging.

In die Welt gesetzt wurde dieses Negativbild von einer kleinen, aber einflussreichen "Empire-Lobby", der jedes Mittel recht war, um Englands Führungsrolle auch im 20. Jahrhundert zu behaupten. In der sozialdarwinistischen Vorstellungswelt jener Zeit war das nur durch eine massive Aufrüstung zu Wasser und zu Lande machbar. Aus der Stigmatisierung Deutschlands als "Reich des Bösen" entstand jenes Bedrohungsszenario, das die englische Regierung brauchte, um im Parlament Etatmittel für Heer und Marine durchzuboxen. Eine Propagandakampagne, die eben nur deshalb erfolgreich war, weil Wilhelm II. mit seinem unbedachten Säbelrasseln ein ideales Feindbild abgab.

Rose hat in seiner sehr detaillierten Arbeit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs eine neue Fassette verliehen, dabei aber die deutsche Außenpolitik und ihr hemdsärmeliges Agieren bei der Suche nach einem Platz an der Sonne nahezu gänzlich außer Acht gelassen. Beim Leser könnte daher leicht der Eindruck entstehen, das ahnungslose deutsche Kaiserreich sei vom perfiden Albion in den Krieg getrieben worden.

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  • Quellen
epoc 6/2011

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