Direkt zum Inhalt

Quantenphilosophie: Das Messproblem: Vom Abgrund zwischen Alltags- und Quantenwelt

Erst durch die Anwesenheit eines bewussten Beobachters gehen Quantenteilchen in einen eindeutigen Zustand über, behauptet ein Video zum philosophischen Problem des Messprozesses.
The Measurement Problem

Veröffentlicht am: 01.08.2014

Laufzeit: 0:11:51

Sprache: englisch

Wer neugierig auf die Welt ist und Dinge wissen, verstehen und anschaulich erklärt bekommen möchte, wirft immer häufiger die Suchmaschine von YouTube an – zumindest wenn er jüngeren Jahrgangs ist. Ob das im Einzelfall eine gute Idee ist, entscheidet sich allerdings erst genau daran: am jeweiligen Einzelfall.

Auch das hier vorgestellte und durchaus sehenswerte Video muss man sich genau ansehen – aber nicht nur deshalb, weil es sich in den höheren Sphären der Quantenphilosophie bewegt. Doch zunächst zum Thema: Die Physik hat einen eigenartigen Unterschied zwischen den Objekten der Quantenphysik und makroskopischen Objekten ausgemacht. Große Gegenstände wie Tische, Lebewesen oder Himmelskörper befinden sich immer an einem wohldefinierten Ort und in einem genau bestimmbaren Zustand. Quantenobjekte hingegen können sich in einer Überlagerung von Zuständen befinden, der so genannten quantenmechanischen Superposition. Mathematisch beschrieben, haben sie zum Beispiel mehrere Aufenthaltsorte gleichzeitig: sowohl hier als auch dort.

Erwin Schrödinger illustrierte dieses seltsame Phänomen am Beispiel einer Katze in einer geschlossenen Kiste, die sich in einem Überlagerungszustand von tot und lebendig befindet. Sehen wir jedoch nach, ob das arme Kätzchen noch am Leben ist, finden wir stets entweder eine tote oder eine lebendige Katze – aber nie eine, die beides zugleich ist. Genau in diesem Widerspruch liegt auch das so genannte Messproblem der Quantenmechanik: Ein Quantenteilchen hat sowohl den einen als auch einen anderen Zustand. Erst bei einer Messung "entscheidet" es sich für einen dieser Zustände – und nur dieser ist es, den der Experimentator dann auch tatsächlich misst.

Was genau dieser Sachverhalt für unser philosophisches Verständnis der Wirklichkeit bedeutet, ist seit knapp einem Jahrhundert eine unter Physikern und Philosophen heiß diskutierte Streitfrage. Je nachdem, ob man die wesentlich von Niels Bohr und Werner Heisenberg entwickelte Kopenhagener Standard-Deutung der Quantenphysik für sinnvoll erachtet oder eine der alternativen Interpretationen, finden sich sehr unterschiedliche Positionen.

Eine davon stellt der YouTube-Kanal "Inspiring Philosophy" in diesem Video vor. Nicht ohne Hintergedanken: Er bemüht sich explizit um die wissenschaftliche Rechtfertigung von christlichen Glaubensinhalten. Gleichwohl lohnt sich das Anschauen des Clips. Zunächst diskutiert er die Theorie der Dekohärenz. Diese beschreibt etwa ab Anfang der 1970er Jahre mit neuen mathematischen Methoden, wie sich der Zustand eines Quantenobjekts bei einer Wechselwirkung mit einem makroskopischen Messgerät oder auch ganz allgemein mit seiner Umgebung entwickelt.

Grob vereinfacht besagt das Konzept der Dekohärenz: Nur Quantenobjekte, die perfekt von ihrer Umgebung isoliert sind, können tatsächlich in einer Superposition von Zuständen verharren. Größere Körper können diese Superposition aber nicht aufrechterhalten: Sie treten unweigerlich in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung, wodurch die Superposition zerstört wird. Anschließend können sie für alle praktischen Belange als Objekte betrachtet werden, die sich völlig normal verhalten und nur noch in genau einem Zustand befinden.

So ist es also möglich, einige der alten philosophischen Streitfragen ein Stück weit zu klären. Dank der Dekohärenz ist Schrödingers Katze nicht mehr tot und lebendig zugleich, sondern tot oder lebendig – auch bevor man in ihre Kiste geschaut hat. Makroskopische Körper "dekohärieren", noch bevor man ihre Quanteneigenschaften hätte wahrnehmen können.

Ganz aufgelöst ist das Messproblem damit übrigens nicht: Ob die Katze noch lebt oder nicht, kann auch mittels Überlegungen zur Dekohärenz nicht entschieden werden – an der Messung und deren eindeutigem Ergebnis führt weiterhin nichts vorbei.

Wer solchen Überlegungen weiter nachgehen will, der wage nun einen Blick in das Video. Der Rhythmus, mit dem seine Macher schwierige wissenschaftliche Publikationen in ihrem Kerngehalt erklären und dazu Zitate führender Wissenschaftstheoretiker einblenden, ist enorm schnell. Laien dürften sich stark überfordert fühlen. Allerdings ist auch selten mehr und komplexere Thematik in einem Wissenschaftsvideo verdichtet zu finden. Dabei sind die Zitate gut und passend gewählt, die Einordnung fällt stimmig aus und die Ausführungen zur Dekohärenz entsprechen dem Stand der Forschung.

Nur am Ende drängt sich der weltanschauliche Hintergrund von "Inspiring Philosophy" unangenehm in den Vordergrund. Die Bemerkungen zur Frage, inwieweit das menschliche Bewusstsein für den Messprozess eine Rolle spielen könnte – als dasjenige, was Überlagerungszustände in "normale", klassische Zustände dekohärieren lässt – sind bestenfalls spekulativ und keinesfalls zwingend, auch wenn die Macher des Videos es so darstellen. Bereits Bohr und Heisenberg haben überzeugend ausgeführt, dass schon ein makroskopischer Messprozess ausreicht, um die Überlagerung des untersuchten Quantensystems aufzuheben – ohne dass zusätzlich der bewusste Prozess eines menschlichen Beobachters erforderlich wäre.

Nicht zufällig präsentiert der YouTube-Kanal mit der christlichen Mission also eine "mentalistische" Deutung. Diese geht zurück auf den mittlerweile verstorbenen Quantenphysiker Bruce Rosenblum, der selbst aber nichts mit Missionierung am Hut hatte. Offenbar setzen die Betreiber des Kanals wesentlich mehr religiös-weltbildliche Hoffnung in die Quantenphysik als Rosenblum selbst.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.