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Filmkritik: »The Unthinkable«: Wenn das Undenkbare wahr wird

Der dystopische Actionfilm »Den blomstertid nu kommer« (auf Deutsch: Jetzt kommt die Blumenzeit) war ab Juni 2018 nur in Schweden in den Kinos zu sehen. Am 18.1.2019 wurde er hier auf DVD veröffentlicht, allerdings unter dem Titel »The Unthinkable«.
Trailer zu The Unthinkable

Auch aus Europa kommen bisweilen erstaunlich gute Filme, obwohl es hier schwer ist, genügend Geld für große Projekte aufzutreiben. Die bisher auf Kurzfilme und Werbespots spezialisierte kleine schwedische Produktionsfirma Crazy Pictures hat sich seit 2015 mächtig ins Zeug gelegt und fast zwei Millionen Euro für ihr bisher umfangreichstes Vorhaben aufgetrieben. Fast die Hälfte davon kam durch Crowdfunding zusammen. Zum Vergleich: Hollywood-Blockbuster verschlingen fast immer mehr als 50 Millionen US-Dollar. Aber mit handwerklichem Können, Einfallsreichtum und guten Schauspielern haben die Schweden trotz des engen Etats einen wirklich eindrucksvollen Film gedreht.

Der gefeierte Pianist Alex gerät nach dem Tod seiner Mutter in eine Lebenskrise. Sie hatte einst seinen gewalttätigen Vater verlassen, und kurz nach ihr flüchtete auch Alex zu einem Verwandten nach Stockholm. Aber jetzt muss er in das Dorf seiner Kindheit zurückkehren, weil seine Mutter gestorben ist und er seinem Vater diese Botschaft persönlich überbringen will. Bei dieser Gelegenheit möchte er das Klavier kaufen, auf dem er als Junge mit seiner damaligen Freundin Anna spielen gelernt hatte. Diese glückliche Kinderzeit endete, als Anna fortzog. Weder mit Anna noch mit seinem Vater hatte Alex seitdem noch Kontakt.

Ein Mittsommernachts-Albtraum

Seine Reise am Mittsommertag nimmt schnell albtraumhafte Züge an. Explosionen erschüttern Stockholm, Verkehrsunfälle blockieren die Straßen, Menschen irren desorientiert umher. Sprengstoffanschläge zerstören wichtige Brücken und das Parlamentsgebäude. Mobilfunk und Strom fallen aus. Fremde Soldaten in Tarnuniformen ohne Kennzeichen tauchen auf und schießen ohne Warnung. Sie tragen Gasmasken, denn ein Nervengift in den Regentropfen zerstört bei ungeschützten Menschen das Gedächtnis.

Am Ende sind alle Protagonisten tot oder haben ein unheilbar geschädigtes Gehirn. Schweden ist von fremden Truppen besetzt. Das von einer unbekannten Macht versprühte Nervengift hat mehrere hunderttausend Menschen zu Pflegefällen gemacht.

Der Film thematisiert den Wahnsinn der modernen Kriegsführung: Ziel ist nicht mehr ein Sieg oder eine Niederlage, sondern die Zerstörung der Infrastruktur und der öffentlichen Ordnung. Staatliche Akteure täuschen einen Guerillakrieg vor, Soldaten und Kriegsgerät tragen keine Hoheitskennzeichen, und digitale Angriffe lassen sich sowieso nicht sicher zurückverfolgen. Der Gegner bleibt unsichtbar, alle in Frage kommenden Mächte leugnen hartnäckig jegliche Beteiligung. Niemand erklärt einen Krieg, aber das Land wird vollkommen verwüstet. Das im Film eingesetzte Giftgas ist nicht dazu gedacht, Menschen zu töten, es soll sie nur so weit außer Gefecht setzen, dass sie lebenslang gepflegt werden müssen. Diese Taktik höhlt die Ressourcen des Gegners aus und behindert seine Erholung.

Am Ende besetzen fremde Truppen das Land, aber nur »zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen«, nicht etwa als feindlicher Akt.

Eine Dystopie von hoher Aktualität

Das alles geschieht bereits heute. Russische Truppen, teilweise ohne Kennzeichen, stehen in der Ukraine und in Georgien. In Syrien haben die USA, Russland, der Iran und die Türkei jeweils Truppenkontingente stationiert und kontrollieren Milizen. Obwohl zeitweilig mehr als 50000 Mann ausländische Truppen und Milizen im Land standen, führte keines der Länder offiziell einen Krieg.

Moderne Industriestaaten sind darauf angewiesen, dass ihre kritischen Infrastrukturen ohne große Unterbrechung funktionieren. Das macht sie verwundbar. Weniger als ein Dutzend Kraftwerke liefern zusammen die Hälfte des schwedischen Stroms. Im Film sind sie das vorrangige Ziel der fremden Soldaten. In zehn Jahren wird ein direkter Angriff vielleicht nicht mehr nötig sein, dann genügt eine massive Attacke über das Internet, um alle Lichter ausgehen zu lassen.

Der Film überträgt die Strategien, die verschiedene Mächte bei den Kriegen in der Ukraine, in Syrien und im Irak angewandt haben, auf ein europäisches Land. Die Kriege der nahen Zukunft werden nicht mehr erklärt, ja offiziell finden sie nicht einmal statt, denn staatliche Gegner schieben Bürgerkriegsparteien vor – oder erfinden sie. Die Angriffe sollen den Gegner durch wuchtige verdeckte Schläge so weit schwächen, dass er zu keinem Widerstand mehr fähig ist. Das alles geschieht beiläufig und ohne große Kriegsrhetorik, denn offiziell ist man nicht beteiligt, sondern beobachtet nur einen Bürgerkrieg im Nachbarland.

»The Unthinkable« zeigt vorwiegend die Perspektive der einfachen Menschen. Sie können der Katastrophe nicht entkommen, ihr Widerstand oder ihre Flucht bleibt vergeblich. Im Film ist der Auslöser des Kriegs beinahe banal: Schweden stört Russlands Wirtschaftsinteressen, und Putin lässt zurückschlagen – beiläufig, verdeckt und brutal. Für viele Schweden ist das ein durchaus glaubwürdiges Szenario. In den letzten Jahren bereitet die aggressiv auftretende russische Regierung den Anrainerstaaten der Ostsee immer mehr Sorgen. Schweden hat 2018 die Wehrpflicht wieder eingeführt, Finnland baut hastig gewaltige Bunkersysteme, Polen und die baltischen Staaten versuchen seit Jahren, die NATO zu mehr Engagement zu bewegen.

Der Film kommt düster und schwer daher, die Menschen reden wenig, selbst die Heldentaten wirken klobig und brutal. Der Protagonist leidet darunter, dass er wegen seines leichten Autismus nur schwer mit anderen Menschen auskommt. Sein Vater verrennt sich in Verschwörungstheorien, die plötzlich auf unheimliche Weise wahr zu werden scheinen. Anna ist in ihr Dorf zurückgekehrt, aber als Alex jetzt um sie wirbt, kommt er zu spät. Sie ist längst verheiratet und hat eine Tochter. Das alles ist sehr gut erzählt und eindrucksvoll gefilmt, wirkt aber streckenweise etwas überambitioniert. So wird nicht klar, ob der Film mehr die Unfähigkeit der Menschen thematisiert, ihre Gefühle füreinander auszudrücken, oder ob er die gleichgültige Grausamkeit moderner Kriegsführung anprangern will. Sobald die Geschichte aber Fahrt aufnimmt, wird sie stimmig und spannend. Der schwedische Titel »Jetzt kommt die Blumenzeit« bezieht sich auf eine sehr bekannte Hymne, die in schwedischen Schulen traditionell den Beginn der Sommerferien einleitet.

Insgesamt ist dem aus nur fünf Personen bestehenden schwedischen Produktionskollektiv Crazy Pictures mit kleinem Budget ein handwerklich exzellent gemachter dystopischer Film mit einer aktuellen politischen Aussage gelungen. Das Werk regt zum Nachdenken an und ist unbedingt sehenswert.

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