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Gesundheit: Zukunft der Medizin oder hypochondrische Überdiagnose?

Ein von einem Technologieunternehmen gesponsertes Video preist unkritisch die Segnungen der medizinischen Selbstüberwachung
The quantified self

Veröffentlicht am: 30.11.2015

Laufzeit: 0:02:20

Sprache: englisch

Der New Scientist ist ein englisches populärwissenschaftliches Magazin.

Schenkt man diesem Video des englischen Wissenschaftsmagazins New Scientist Glauben, dann ist es stets besser, mehr Daten über die eigene Gesundheit zu besitzen. Früher habe man sich bei der Antwort auf die Frage, wie es einem denn so geht, nur an sein Gefühl halten können. Heute hingegen hätten Menschen alle möglichen Optionen, die eigenen Vitalwerte zu tracken, um so ein immer feiner aufgelöstes "Gesundheitsporträt" von sich selbst zu erstellen und immer gesünder leben zu können.

Mit typisch britischer Fernsehwerbestimme zählt der Sprecher all die tollen Daten auf, die Handys, Smartwatches und Fitness-Tracker in unserem Alltag heute aufzeichnen können: von der Herzrate über die Schrittzahl bis hin zu den gelaufenen Kilometern. Ja, in Zukunft könne man vielleicht sogar Proteine im Blut analysieren, um Krebs und andere Krankheiten noch vor dem Auftreten von Symptomen zu erkennen.

Zugegeben, ganz so sinnlos ist die kontinuierliche Selbstquantifizierung nicht. Schon 1984 berichtete eine Studie im hochrenommierten britischen Fachjournal Lancet, dass Blutdruckwerte, wenn sie vom Arzt gemessen werden, signifikant höher sind, als wenn Patienten sie vor oder nach dem Arztbesuch daheim messen. Um Bluthochdruck, aber auch Herz-Rhythmus-Störungen, sicher zu erkennen, werden daher schon lange 24-Stunden-Messungen durchgeführt. Auf diese Weise lässt sich der so genannte Versuchsleiter-Effekt reduzieren, der die Resultate verfälscht. Gleichzeitig erhält man einen Einblick in die Organfunktion zu verschiedenen Tageszeiten. Mittlerweile können Gesundheitstracker diese Aufgaben übernehmen, falls ihre Sensoren fein genug auflösen.

Gegen die permanente Selbstüberwachung spricht dagegen die Tatsache, dass mehr Daten auch hypochondrische Selbstdiagnosen fördern. Und mehr noch: Viele jüngere Studien berichten übereinstimmend, dass die massenhafte Erhebung von Daten oft so genannte falsch-positive Fehler verursacht. Es werden also Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere Leiden bei Menschen diagnostiziert, die gesund sind. So provozieren zu viele Daten Überdiagnosen und damit unnötige, teils schädliche Behandlungen. Und bei all der Aufregung am Ende vielleicht sogar Bluthochdruck!

Dass das Video die Segnungen der Selbstquantifizierung so gänzlich unkritisch preist, verwundert nicht. Schließlich wird es von dem niederländischen Technologieunternehmen Philips gesponsert, das sich auch im Gesundheitswesen um technische Innovationen bemüht. Es ist eben auch beim New Scientist nicht alles unabhängiger Wissenschaftsjournalismus.

Dennoch, ganz gefeit vor den Verlockungen der Selbstüberwachung bin auch ich nicht. Nach Weihnachten habe ich mit einer App meine Schrittzahl und meine Kalorien gezählt und schon zwei Kilo abgenommen (Applaus bitte!). Wen das Thema Überdiagnose interessiert, dem empfehle ich kein Video, sondern ein Buch Overdiagnosed: Making People Sick in the Pursuit of Health.

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