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Der Mathematische Monatskalender: Abu'l Wafa (940–998)

Abu'l Wafa al-Buzjani ist einer der bedeutendsten unter den arabischen Gelehrten, die das Erbe der griechischen Mathematik bewahren und weiterentwickeln.
Abu'l Wafa (940 – 998)

Mit der Eroberung Bagdads beginnt im Jahr 945 die etwas über 100 Jahre dauernde Herrschaft der Dynastie der Buyiden im Gebiet des heutigen Irak und dem westlichen Teil des Iran. Der neue Kalif Ahmad Buyeh und seine Nachkommen verstehen sich als Förderer der Künste und Wissenschaften. So lassen sie im Garten des Palastes ein großes Observatorium bauen, zu dem ein 6 Meter langer Quadrant und ein 18 Meter langer gemauerter Sextant gehören, durch die genauere Messungen als bisher möglich werden.

Zu den bedeutendsten Wissenschaftlern, die in dieser Zeit in Bagdad wirken, gehört Mohammad Abu'l-Wafa al-Buzjani, der in Buzjan (Provinz Khorasan) aufwächst und als Kind einer wohlhabenden Familie eine umfassende Bildung erfährt. Mit 19 Jahren geht er nach Bagdad und wird dort zunächst mit der Übersetzung der Schriften von Euklid und Diophant beauftragt; danach verfasst er Kommentare zu al-Khwarizmis Werken.

In wissenschaftlichen Kreisen ist mittlerweile die Nutzung der "indischen" Ziffern stark verbreitet, im Alltag wird jedoch überwiegend noch die Technik des "Finger-Rechnens" ohne Verwendung einer Ziffernschreibweise angewandt. Von alters her werden beim Finger-Rechnen die Zahlen von 1 bis 12 mithilfe des Daumens als Zeiger und den 4 x 3 Fingergliedern der anderen Finger derselben Hand angezeigt; die Finger der anderen Hand werden für die Darstellung der Zahlen von 13 bis 60 verwendet.

Für Kaufleute und Schreiber verfasst Abu'l-Wafa al-Buzjani ein Buch darüber, welche Rechenkenntnisse im Alltag notwendig sind. Alle im Buch auftretenden Zahlen werden als Wörter notiert, auch komplizierte Rechnungen verbal beschrieben.

Das Buch umfasst sieben Kapitel. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Brüchen. Dabei spielen im Alltag die Stammbrüche 1⁄2, 1⁄3, ..., 1⁄10 eine besondere Rolle, andere Brüche werden als Vielfache dieser Stammbrüche notiert.

Da sowohl die Maß- als auch die Geldeinheiten in dem von den Babylonier stammenden Sexagesimalsystem (also mit Basis 60) angegeben werden, zum Beispiel \(1\ \text{dirham} = 60\ \text{fulus}\), fällt das Rechnen mit Brüchen leicht, wenn die Nenner Teiler von 60 sind:

\( \begin{array}{|c|c|c|c|c|c|c|c|c|} \hline \text{dirham} & \frac{1}{2} & \frac{1}{3} & \frac{1}{4} & \frac{1}{5} & \frac{1}{6} & \frac{1}{8} & \frac{1}{9} & \frac{1}{10} & \frac{1}{12} &... \\ \hline \text{fulus} & 30 & 20 & 15 & 12 & 10 & 7{,}3 & 6{,}4 & 6 & 5 & \\ \hline \end{array} \)

Für Brüche mit anderen Nennern werden Näherungswerte verwendet; zum Beispiel gibt Abu'l-Wafa für den Bruch 3⁄17 folgende Approximationen an: \(\frac{3}{17} \approx \frac{3+1}{17+1} = \frac{2}{9} \) sowie \( \frac{3}{17} \approx \frac{3+\frac{1}{2}}{17+\frac{1}{2}}=\frac{1}{5}\) und sogar \( \frac{3}{17} \approx \frac{3+\frac{1}{7}}{17+\frac{1}{7}}= \frac{1}{6} + \frac{1}{60}\)

Im zweiten Kapitel wird das Rechnen mit ganzen Zahlen und Brüchen erläutert. Unter anderem gibt Abu'l-Wafa einen scheinbar komplizierten Rechentrick für das Multiplizieren von ganzen Zahlen im selben Zehnerraum an:

\(\begin{split} (10a+b) (10a+c) = &10(a+1)\bigg[10a+b – \big\{10(a+1) – (10a+c)\big\}\bigg] \\ &+ \big[10(a+1) – (10a+b)\big] \big[10(a+1) – (10a+c)\big] \end{split}\)

Die dahinter steckende Idee wird deutlich, wenn man die Faktoren und die zugehörigen Flächen mithilfe eines Rechtecks veranschaulicht:
orange = (gelb – blau) + grün

Der Trick funktioniert sogar für \(a=0\); hierbei treten negative Differenzen auf, die Abu'l-Wafa als "Schulden" bezeichnet, ohne näher darauf einzugehen. Es ist die einzige Stelle in der Literatur des mittelalterlichen Islam, bei der negative Zahlen angesprochen werden. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit der Bestimmung von Flächeninhalten und Volumina sowie von Entfernungen von unzugänglichen Punkten, mit der Berechnung von Steuern, Mautgebühren, Wechselkursen und Tauschgeschäften.

Ein weiteres Buch, Was Handwerker an geometrischen Konstruktionen benötigen, entsteht um 990. Hier übernimmt Abu'l-Wafa zahlreiche Konstruktionen griechischer Mathematiker, entfaltet aber auch viele neue eigene Ideen. Eine Besonderheit stellen dabei seine Konstruktionen mit einem Lineal und einem eingerosteten Zirkel dar, das heißt mit einem Zirkel, der nicht verstellbar ist. Für Handwerker ist es nämlich wichtig, dass sich während der Arbeit der Radius nicht unbeabsichtigt verändert. In der 1. Grafik ist dargestellt, wie man in einem Endpunkt einer Strecke eine Senkrechte errichtet, ohne die Strecke selbst zu verlängern, in der 2. Grafik, wie man (mithilfe von zwei Senkrechten) eine Strecke in drei gleich große Teilstrecken unterteilt.

Originell ist auch Abu'l-Wafas Konstruktion eines gleichseitigen Dreiecks, das einem Quadrat einbeschrieben ist (3. Grafik). In der 4. Grafik ist die näherungsweise Bestimmung der Seite eines regelmäßigen Siebenecks dargestellt: Zunächst konstruiert man ein gleichseitiges Dreieck in einen gegebenen Kreis und trägt dann die halbe Seitenlänge des Dreiecks als Seite des 7-Ecks ab (diese beträgt \(0,5 \cdot \sqrt{3} \cdot r \approx 0{,}8660 \cdot r\), korrekt wäre \(0{,}8678 \cdot r\) ).

Ein Teil des Buches widmet er den geometrischen Mustern, die von den Handwerkern in Form von Mosaiken bei der Verzierung von Gebäuden verwendet werden. Da es bei der Erstellung von Mosaiken um das geschickte Zerlegen von Vielecken geht, widmet er sich sehr ausführlich den dabei auftretenden Problemen.

Für die Aufgabe, drei gleich große Quadrate so zu zerlegen, dass ihre Puzzlestücke zusammen wieder ein Quadrat ergeben, ist bei den Handwerkern die abgebildete Zerlegung üblich, die auf den ersten Blick wunderbar zu passen scheint; bei genauer Rechnung erkennt man jedoch die Ungenauigkeit.

Abu'l-Wafa findet eine elegante Lösung: Er halbiert zwei der Quadrate längs einer Diagonalen und setzt sie mit dem ungeteilten Quadrat zu einer Figur zusammen. Die blauen Verbindungslinien der außen liegenden Eckpunkte der Figur bilden dann das gesuchte Quadrat. Die überstehenden Dreiecke passen genau in die Lücken innerhalb des Quadrats; sie bilden zusammen mit den weißen Restdreiecken je ein besonderes Viereck mit zwei rechten Winkeln.

Solche Zerlegungen eines Quadrats findet man als Fliesenmuster in zahlreichen Moscheen, so zum Beispiel in der Freitags-Moschee von Isfahan. Die Zerlegung ist ein Spezialfall eines allgemeinen Puzzle-Beweises des Satzes von Pythagoras, wie er im 19. Jahrhundert von Henri Perigal angegeben wird.

Eine ähnliche Lösung findet Abu'l-Wafa für ein Muster aus drei zueinander kongruenten Dreiecken, die ein kleineres ähnliches Dreieck einschließen. Verbindet man die außen liegenden Eckpunkte miteinander, dann entsteht ein Dreieck, das flächengleich ist zu den vier Ausgangsdreiecken.

Für ganzzahlige \(a, b\) entdeckt Abu'l-Wafa eine Methode, ein Quadrat mit Flächeninhalt \(a^2 + b^2\) in kleinere Quadrate zu zerlegen: In dem darüber gelegtes Quadratraster werden \(a + b – \text{ggT}(a;b)\) der Einheitsquadrate geteilt; die Teile ergänzen sich jeweils mit einem symmetrisch liegenden Puzzleteil wieder zu einem Einheitsquadrat. Insgesamt besteht die Figur aus \(a^2 + b^2 + 2 \cdot (a + b – \text{ggT}(a;b))\) Puzzleteilen.

Von Abu'l-Wafa stammt auch eine Beweisvariante des Satzes von Pythagoras: Gegeben sind zwei Quadrate mit den Seitenlängen \(a\) und \(b\), wobei \(a < b\). In der Figur links wird das Quadrat mit Seitenlänge \(a\) (gelb) in eine der Ecken des Quadrats mit Seitenlänge \(b\) gelegt; so entsteht in der gegenüberliegenden Ecke ein Quadrat mit Seitenlänge \(b – a\) (türkis).

Dann ergibt sich aus den Puzzleteilen von \(a^2\) und \(b^2\) ein Quadrat der Seitenlänge \(c\) (= Länge der blauen Strecken).

Ein großer Teil des Ansehens, das Abu'l-Wafa über Jahrhunderte in der islamischen Welt genießt, begründet sich auch durch seine umfangreichen astronomischen Untersuchungen, unter anderem durch seine Bearbeitung des Ptolemäus'schen Almagest. Er steht mit Abu Arrayhan al-Biruni in Verbindung und kann aus den Daten, die dieser während einer Mondfinsternis in Kath (heute Usbekistan) bestimmt hat, und eigenen Messwerten die Differenz der geografischen Längen der beiden Beobachtungsorte ermitteln.

Abu'l-Wafa ist auch der Erste, der die Vereinfachung erkennt, wenn man den Sinus, den Kosinus und den Tangens eines Winkels am Einheitskreis betrachtet (also mit Radius \(R = 1\) anstelle des bis dahin üblichen \(R = 60\)). Statt der bis dahin üblichen Sehnentafeln erstellt er Tabellen mit den Werten aller sechs trigonometrischen Funktionen mit einer Schrittweite von \(15'\) und einer Genauigkeit von umgerechnet 8 Dezimalstellen. Dies gelingt ihm mithilfe des von ihm hergeleiteten Additionssatzes \( \sin(\alpha\pm\beta)=\sin(\alpha)\cdot \cos(\beta) \pm \cos(\alpha)\cdot \sin(\beta) \) sowie des Halbwinkelsatzes \(\cos(\alpha ) = 1- 2 \cdot \sin^2\left(\frac{\alpha}{ 2}\right)\), um schrittweise von bekannten Werten, wie zum Beispiel \(\sin(60^\circ)\) und \(\sin(72^\circ)\), zu den Werten von kleineren Winkeln zu kommen. Außerdem entdeckt er den Sinussatz für sphärische Dreiecke: \[\frac{\sin(A)}{\sin(a)}= \frac{\sin(B)}{\sin(b)}= \frac{\sin(C)}{\sin(c)} ,\] wobei mit \(A, B, C\) die Seitenlängen und \(a, b, c\) die Größen der gegenüberliegenden Winkel bezeichnet sind.

Abu'l Wafa (940-998)

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